Süchtig
erst Feuer gefangen haben. Aus einem der vorderen Fenster züngelten Flammen. Das zweistöckige Gebäude mit dem cremefarbenen, schwarz abgesetzten Putz und der leuchtend roten Eingangstür wirkte solide und schien weitgehend unversehrt.
Dann hörte ich einen donnernden Knall, und eine Hitzewelle rollte durch den Garten. Im Erdgeschoss schlugen Flammen aus den Fenstern. Auf dem Gehweg entdeckte ich einen Mann in Sportkleidung mit Tennistasche, der in sein Handy sprach. Ich rannte zu ihm und stellte fest, dass er gerade die Feuerwehr alarmierte.
»Gott sei Dank sind alle auf der Beerdigung«, murmelte er.
Ein Wunder, aber nur ein kleines. Kaum waren wir zu dem Schluss gekommen, dass die Familie nicht im Haus war, da riss im ersten Stock eine dicke Frau ein Fenster auf und schwenkte panisch die Arme.
»Zur Hintertür«, brüllte der Mann.
»Ich verbrenne!«
»Die Feuerwehr ist unterwegs«, rief er zurück. »Bleiben Sie ganz ruhig.«
»Sie haben gut reden!«
Zwei Jungen mit Rädern schossen um die Ecke. »Die hintere Veranda brennt!«
Mir fiel auf, dass die Frau hektisch nach Luft rang und hyperventilierte. Das war die Angst, nicht das Feuer.
Wie bei vielen Häusern in San Francisco lag das Erdgeschoss teilweise unter der Erde. Vom ersten Stock bis zum Boden waren es daher kaum mehr als drei Meter.
»Machen Sie das Fenster ganz auf, und setzen Sie sich auf das Fensterbrett«, sagte ich. »Wenn Sie sich am Fallrohr festhalten, können Sie sich herunterlassen. Wir nehmen Ihre Füße. Keine Sorge, das ist ganz leicht. Ihnen passiert nichts.«
Sie atmete noch schneller. In ihrer Angst hörte sie mich gar nicht. Eine Panikattacke. Soweit ich sehen konnte, war die größte Gefahr, dass sie das Bewusstsein verlor und sich nicht mehr helfen konnte. Ich sah die physiologischen Abläufe bildhaft vor mir: Irgendwann mussten sich die Atemwege mit schwarzem Ruß füllen, was dazu führen würde, dass Blut, Herz und Gehirn nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurden.
Ich war immer noch nicht darüber hinweg, dass ich nicht Arzt geworden war. Zum einen, weil ich immer wieder in die Defensive geriet, wenn jemand auf meinem Lebenslauf herumhackte. Vor allem aber, weil ich mir eine Verantwortung aufgeladen hatte, der ich nicht
gerecht werden konnte. Ich war in der Lage, medizinische Probleme zu erkennen, besaß aber nicht das Fachwissen, etwas dagegen zu unternehmen.
Was konnte ich tun? Die Frau musste beruhigt werden, das war auch für den Laien ersichtlich.
»Halten Sie den Kopf aus dem Fenster!«, rief ich. »Atmen Sie langsam und ruhig!«
Sie rührte sich nicht.
»Hallo!«
Keine Reaktion.
Ich trat einen Schritt auf das Haus zu. »Helfen Sie mir«, sagte ich zu dem Mann neben mir. Instinktiv packte er mich am Arm, offenbar, damit ich keine Dummheit beging. Er hatte keine Ahnung, zu was für Dummheiten ich fähig war. Wie zum Beispiel, meinen einundzwanzigsten Geburtstag mit der Besteigung des Aconcagua in Argentinien zu feiern – ein schwieriger Aufstieg in extremer Höhe, bei dem ich gefährlichen Winden ausgesetzt gewesen war.
Ich sah mir das Fallrohr neben dem Fenster an. Besonders riskant schien mir die Kletterpartie nicht. Zudem sank die Frau immer mehr in sich zusammen. Wenn sie sich nicht beruhigte, würde sie ersticken und letzten Endes doch noch verbrennen.
Von den Nachbarn, die zusammengelaufen waren, schien keiner zu wissen, was er tun sollte. Die Türen und Fenster im Erdgeschoss waren vom Feuer versperrt. Ich stellte mich unter das Fenster.
Mit den Händen am Fallrohr setzte ich versuchsweise einen Fuß auf den Putz, rutschte aber sofort ab. Ich besah mir meine Füße. Die rutschigen schwarzen Lederschuhe, die ich zur Beerdigung getragen hatte,
waren denkbar ungeeignet. Ich zog mich erneut am Fallrohr hoch. Der Mann, mit dem ich gesprochen hatte, und ein anderer Nachbar stützten meine Füße. Wenn ich mich auf ihre Hände stellte, musste ich bis zur Fensterbank nur noch einen Meter aus eigener Kraft zurücklegen.
Ich stemmte die Füße gegen die Hauswand und klammerte mich an ein Metallband, mit dem das Rohr an der Mauer befestigt war. Als ich nach der nächsten Halterung greifen wollte, löste sich mein Griff, und ich rutschte am Rohr entlang nach unten. Ich kam mit den Füßen auf und landete schließlich auf dem Hintern.
Nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte, gaben mir die beiden Männer erneut Hilfestellung. Nun hing ich einen Meter unter der Fensterbank und sah mit jedem
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