Süchtig
sehe, wie sorglos Menschen mit Technik umgehen. Wir verbreiten geschmacklose Witze und radikale politische Ansichten über ein Medium, das jegliche Korrespondenz bis in alle Ewigkeit speichert. Selbst wenn wir etwas löschen, hinterlassen wir Spuren. Wir reden in aller Öffentlichkeit am Handy über unsere intimsten Angelegenheiten. Vielleicht ist uns wirklich alles egal. Oder wir hoffen insgeheim darauf, dass uns jemand dabei ertappt, wie wir ganz wir selbst sind.
Ich spielte einen Augenblick mit dem Computer herum und versuchte, die Datei zu öffnen. Der Mann war tot, also konnte ich seine Privatsphäre nicht mehr verletzen. Wie sich herausstellte, waren meine Versuche ohnehin vergeblich. Ich kannte mich nicht gut genug aus, um das Passwort zu knacken.
Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Andy und sein Laptop mit der Explosion zu tun haben sollten, aber ich konnte Erins verzweifelte Neugier verstehen. Außerdem griff ich mittlerweile selbst nach jedem Strohhalm.
»Kann ich mir den Rechner für ein oder zwei Tage ausleihen?«, fragte ich. »Ich kenne einen Technikfreak, dem ich die Datei gern zeigen würde.«
Ich erzählte ihr von meinem Artikel über den Einfluss von Funkstrahlung auf das Gehirn. Im Rahmen meiner Recherchen hatte ich unter anderem mit Mike
Thompson vom Stanford Technology Research Center gesprochen, der sich mit Technik im Allgemeinen hervorragend auskannte.
»Muss ich sonst noch etwas wissen?«, fragte ich.
Erin schien davon überzeugt, dass etwas faul war. Gab es noch einen anderen Grund für ihre Intuition? Einen, den sie für sich behielt?
Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Sie schüttelte den Kopf. »Mein Mann war Alkoholiker.«
»Ihr Mann?« Mir war nicht klar, was das mit diesem Andy zu tun hatte.
»Mein Exmann. Wenn er getrunken hatte, verwandelte er sich in einen anderen Menschen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Mit Andy war es genauso.«
»Er war Trinker?«
»Nein, das meine ich nicht. Ich wollte nur sagen, dass er sich in den letzten sechs Wochen seines Lebens völlig verändert hatte. Ich kannte ihn. Er war nicht nur krank, er war ein völlig anderer Mensch. Als hätte ein anderer von seinem Körper Besitz ergriffen.«
»Ihre Intuition in allen Ehren, aber ein Tumor kann durchaus eine Persönlichkeitsveränderung auslösen. Störungen der chemischen Abläufe im Gehirn übrigens auch. Das ist für Depressionen bezeichnend.«
Ich bat sie um den Namen von Andys Neurologen. Sie gab mir die Visitenkarte eines gewissen Dr. Murray Bard, der Andy von Simon Anderson empfohlen worden war. Andy hatte sich im Café mit Simon angefreundet und passte manchmal drüben in West Portal auf Simons Kinder auf.
»Für Simon taten die Leute alles«, sagte Erin. Ihre Stimme hatte sich verändert. So rede ich manchmal mit
meinen Redakteuren, wenn ich nicht ganz aufrichtig bin.
»Und Simon war mit diesem Neurologen befreundet?«
»Simon kannte jeden.«
Ich bot an, mit dem Taxi zu meinem Auto zu fahren, aber Erin bestand darauf, mich zum Friedhof zu bringen. Mit dem Dell-Laptop unter dem Arm trat ich aus der Tür, wäre aber schon nach zwei Schritten fast über ein Kabel gefallen. Müde und geistesabwesend, wie ich war, hatte ich den Handwerker übersehen, der die Beleuchtung im Gang reparierte. Das hätte mir eigentlich nicht passieren dürfen. Er war ein kräftiger Mann mit einem buschigen, lockigen Bart, der meine Unachtsamkeit mit einem verärgerten Knurren kommentierte.
»Gehen will gelernt sein«, meinte Erin.
Dann prustete sie los, und die Stimmung hob sich. Es war lange her, dass ich jemanden so fröhlich hatte lachen hören.
Aber ein solches Lachen kann täuschen. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, kam mir ein Gedanke. Erst würde ich den Laptop wegbringen, aber danach sollte mir ein kleiner Umweg helfen, Klarheit über Erin und das Café zu gewinnen.
13
Erin beschloss, mich zum Stanford Technology Research Center zu begleiten, wo ich den Laptop abgeben wollte. Ich musste dort sowieso Unterlagen für meinen Artikel abholen, vor dem mir mehr und mehr graute. Der Termin war einfach zu knapp.
Ich hatte mir angewöhnt, grundsätzlich pünktlich zu sein. Das war der Einfluss von Silicon Valley. Dort gibt es überall Chronometer. Nicht nur Uhren, auch Mobiltelefone, Pocket-PCs und Piepser liefern exakte digitale Zeitangaben. Einer meiner Freunde prahlte damit, dass er keine Uhr trug, was er offenbar für ein Zeichen geistiger Unabhängigkeit hielt.
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