Süden und das Geheimnis der Königin
Internet nach einer Münchner Spedition, deren Name so ähnlich wie »Sinner« klang. Ich musste nicht lange suchen: »Claudius Singer – Nah und Fernumzüge, Kleintransporte, Entrümpelung, Lagerung, Verpackungsmaterial, Montagen, kostenlose Beratung«.
Ich vereinbarte einen Termin in einer Stunde. Dann warteten Martin und ich im Hof des Dezernats auf einen Kollegen, der uns den Dienstwagen zurückbrachte, den wir in der Nähe der Wohnung von Emanuel Roos in der Bergmannstraße stehen gelassen hatten, weil wir nach dessen Vernehmung einen Auslauf unter freiem Himmel brauchten.
»Der tote Franz erzählt seine Geschichte immer weiter«, sagte Martin.
»Als hätte er auf uns gewartet.«
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V ermutlich wissen Sie es nicht«, sagte der dicke alte Mann, der vor uns durch den Flur ging.
»Wir sind hier«, sagte Martin, »weil wir wissen möchten, warum Sie bis heute nichts von dem Italiener erzählt haben, der Ihre Tochter möglicherweise nach Italien entführt hat.«
Wir standen in einem Wohnzimmer voller weißer Möbel, weiße Couch, weiße Sessel, weißer Wandschrank, grauer Fernseher, niedriger weißer Bücherschrank, darauf ein gerahmtes Foto neben dem anderen, Farb und Schwarzweißaufnahmen, deren Motive ich auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Ein Glastisch, auf dem eine Tageszeitung und Illustrierte lagen, auf dem Boden wertvolle Perserbrücken, vor dem Fenster eine Gardine, deren Weiß fast leuchtete. Das Zimmer wirkte, als wäre es gerade akribisch aufgeräumt und geputzt worden oder als lebe niemand hier.
Emanuel Roos, der in dieser Wohnung lebte, trug ein blaues Hemd mit bordeauxroter Krawatte, darüber eine karierte Strickjacke aus feiner Schurwolle, eine dunkelblaue Hose und schwarze Halbschuhe, deren Leder glänzte. Er hatte weißes, volles Haar und ein breites teigiges Gesicht, sein Bauch hing weit über den Gürtel der Hose. Als er sich in einen der beiden weißen Sessel setzte, bemerkte ich zwei blaue Hosenträger.
»Nehmen Sie Platz!«, sagte er. Martin setzte sich in den zweiten Sessel, ich blieb in der Nähe des Fensters stehen. Martin hatte einen Ordner mit den Akten von damals dabei, die Vermisstenanzeige, die Aussagen der Eltern der Arbeitskollegen, Fotos und Berichte von mir.
»Wollten Sie gerade ausgehen?«, fragte ich.
»Nein, wie kommen Sie darauf?«, sagte Roos.
»Sie sind so gekleidet.«
»Ich ziehe mich jeden Tag so an. Stört sie das?« Ich erwiderte nichts.
»Wer war dieser Italiener?«, fragte Martin, den aufgeschlagenen Ordner vor sich auf dem Glastisch.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie haben damit gerechnet, dass wir Sie besuchen werden?«, sagte ich.
»Seit das Foto in der Zeitung war«, sagte Roos.
»Das Foto von Franz Grosso«, sagte ich.
»Warum ist er gestorben?«
»Er ist verhungert«, sagte ich.
»Das passt zu ihm«, sagte Roos. Er legte die Hände flach auf die Oberschenkel, seine Fingernägel waren makellos gepflegt.
Martin legte den Stift hin, mit dem er sich Notizen machte, und wartete. Auch ich hatte nicht die Absicht nachzufragen. Nach einer Weile schob Roos seinen massigen Oberkörper vor und stützte die Hände auf der Sessellehne ab.
»Er ist der Mann, der im Alter dünn wird«, sagte Roos wie zu sich selbst.
»Er wird dürrer und dürrer und wenn er nicht aufpasst, verhungert er. Ich bin im Alter dick geworden, ich bin jetzt neunundsiebzig, als ich sechzig war, war ich ein schlanker Mann, mit siebzig habe ich begonnen, fett zu werden. Das ist ungewöhnlich.«
»Warum sind Sie fett geworden?«, fragte ich. Er schmatzte, vermutlich trug er ein Gebiss, und blickte zu den Fotografien auf dem Bücherschrank.
»Zu viel allein. Gleichgültigkeit. Bequemlichkeit. Nachlässigkeit. Nach dem Tod meiner Frau habe ich nur noch gegessen. Ich bin der Mann, der zunimmt im Alter.«
»Ihre Frau starb an einem Herzinfarkt«, sagte Martin.
»Herzstillstand aufgrund einer Überdosis«, sagte Roos. Er lehnte sich zurück und legte die Hände in den Schoß.
»Sie hatte den Überblick verloren, sie verwechselte Aufputschmittel und Tranquilizer, außerdem trank sie dauernd Alkohol, den ganzen Tag, nachts erbrach sie sich, überall in der Wohnung. Wir hatten einen hohen Verschleiß an Putzfrauen, sehr hohen Verschleiß. Es war abzusehen. Ich konnte ihr nicht helfen. Nach ihrem Tod bin ich umgezogen.«
»Von der Gollierstraße in die Bergmannstraße«, sagte Martin.
»Das war ja nicht mehr auszuhalten, die Wohnung. Die Möbel nahm ich mit, alles alt hier, alles
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