Süden und das Geheimnis der Königin
das Einzige, was ich verstand, war der Name dessen, den er ansprach: Severino.
Natürlich war es kein einmaliger Name, aber ich war mir sofort sicher, dass dies der Mann war, den wir suchten. Intuition. Die größte Kraft eines Kriminalisten. Zeit meines Berufslebens konnte ich mich auf sie verlassen. Auch in Tissano.
Mein erstes Gespräch mit Severino Aroppa fand zwei Tage nach meiner Ankunft statt. Und es dauerte zwei weitere Tage, bis er bereit war, uns seine Geschichte zu erzählen. Und er hatte sie genau bis zu einem Punkt erzählt, an dem es wieder einmal um Soraya Roos ging, als das Blutbad begann.
» Una notte apocalittica « , sagte er und bekreuzigte sich.
3
S echs Wochen vor der Blutnacht von Tissano, am Abend des dreißigsten April, saßen Martin Heuer und ich in der Gaststätte »Fraunhofer« und sprachen mit einem Mann, der abgöttisch betrunken war. Normalerweise führten wir keine Vernehmungen in Kneipen durch. In diesem Fall mussten wir eine Ausnahme machen, weil wir nicht warten wollten, bis der Mann wieder nüchtern war – falls er das überhaupt je war –, und wir die Informationen so schnell wie möglich benötigten. Ihn im Auto in unser Dezernat zu schaffen, zogen wir nicht einmal in Erwägung.
Außerdem planten wir nach der Vernehmung noch eine Weile sitzen zu bleiben.
Der Mann hieß Ewald Sturm, er war achtunddreißig Jahre alt und lange Zeit Kellner im ehemaligen »Bärenwirt« in Mittersendling gewesen. Das Lokal hatte vor fünf Jahren zugemacht, seitdem verfiel das kleine Haus in der Hinterbärenbadstraße. Die Brauerei kümmerte sich nicht darum, sie war die Eigentümerin und hatte offenbar keine Verwendung dafür. Irgendwann wurden die Fenster, deren Scheiben im Lauf der Zeit zu Bruch gingen, mit Brettern vernagelt, sonst passierte nichts. Bis zum Morgen dieses Tages. Da erschienen zwei Vertreter der Brauerei, um die Kneipe oder das, was von ihr übrig geblieben war, zu inspizieren. Die Immobilie, so erzählten sie später meinen Kollegen, sollte verkauft und in ein Wohnhaus umgewandelt werden. Beim Öffnen der Tür schlug den beiden Männern ein penetranter Geruch entgegen. Sie stiegen über Glasscherben und Dreck hinweg und bemerkten im Halbdunkel eine Gestalt, die reglos auf dem Boden lag. Es handelte sich um die Leiche eines Mannes, die erbärmlich stank. Nach ersten Untersuchungen hielt der Pathologe es für möglich, dass der Mann, den er auf Mitte sechzig schätzte, verhungert war. In einem alten, zerrissenen Rucksack fanden meine Kollegen vom Kommissariat Todesermittlung ein paar Zettel, Konserven mit abgelaufenem Verfallsdatum, ein Schweizer Messer, halb verrostet, und das vergilbte, zerknitterte Foto einer Frau, deren Gesicht nicht mehr zu erkennen war. Einen Ausweis entdeckten sie nicht, also handelte es sich vorerst um einen unbekannten Toten und dafür waren wir von der Vermisstenstelle zuständig. Auf einem der Zettel stand der Name »Sturm, Ewald«. Dessen Nachbarin erklärte uns, wir würden ihn im »Fraunhofer« finden, dort sei er zu Hause, nachts. Tagsüber schlafe er oder höre laut Musik.
»Was für Musik?«, fragte Martin.
»Mozart«, sagte die Nachbarin.
»Mozart ohne Ende. Nichts gegen Mozart. Aber wenn Sie den jeden Tag hören, schnappen Sie über, das ist unvermeidlich.« Ich sagte: »Warum?« Damit war die Unterhaltung beendet.
»Grüß Gott«, sagte Martin zum dritten Mal. Der Mann starrte ihn an. Sein Zuhause war der dritte Tisch an der Fensterfront, er saß direkt vor dem Fenster, als schaue er gern hinaus. Aber er schaute nicht hinaus.
Es kam mir vor, als würde sein Blick, unmittelbar nachdem er die Augen verließ, in sich zusammensacken.
»Mein Name ist Tabor Süden«, sagte ich und hielt ihm meinen blauen Ausweis hin. Einige Gäste, es waren vor allem Studenten, beobachteten uns. Wir bestellten zwei Helle. Sturm trank Cola mit gefährlichen Zusatzstoffen.
Als wir ein Foto der Leiche auf den Tisch legten, trank er sein Glas in einem Zug aus und betrachtete lange das Bild, ohne es in die Hand zu nehmen.
»Wer ist das?«, fragte ich.
Nach einer gewissen Weile sagte Sturm: »Das ist der Franz.«
»Und wie noch?«, fragte Martin.
»Der Franz«, sagte Sturm und bekam unaufgefordert ein neues volles Glas.
»Das ist aber das Letzte«, sagte die Bedienung.
»Freilich«, sagte Sturm.
»Hat er was angestellt?«, fragte die junge Frau.
»Nein«, sagte ich.
»Ich weiß auch nicht, warum der Wolfi so viel sauft«, sagte sie.
»Welcher
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