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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sagen!«
    Martin duzte ohne Umschweife. Er war ein Gasthausbewohner.
    »Was macht dein Dichter?«, fragte Thon. Martin kratzte sich am Kopf. Seine restlichen Haare formierten sich zu einem Kranz, den er jedes Mal ordnete, wenn er sich am Kopf kratzte.
    »Spinnt immer stärker«, sagte er.
    Zu unseren Aufgaben im K 114 gehörte auch die Beschäftigung mit den Werken verhaltensgestörter Briefeschreiber.
    Martins aktueller Poet beschimpfte eine siebenundvierzigjährige allein stehende Frau in Harlaching. Sie hatte sich vor zwei Jahren scheiden lassen und lebte seitdem in einer hundertfünfzig Quadratmeter großen Wohnung – für fünfhundert Mark. Die restlichen siebzehnhundert bezahlte ihr Exmann. Sie arbeitete als Redakteurin bei einem Frauenmagazin, in dem sie ihr Briefproblem schon in mehreren Berichten ausgebreitet hatte. Natürlich meldeten sich eine Menge Frauen, die ähnliche Briefe erhielten. Wir kannten sie alle.
    Wir kannten auch die Absender. Den meisten von ihnen konnten wir nichts nachweisen. Die Übrigen wurden dazu verurteilt, sich in psychologische oder psychiatrische Behandlung zu begeben.
    Chardonnay zu überführen, war kompliziert. Er war Rechtsanwalt, gewieft, charmant, zuvorkommend. Martin benannte die anonymen Autoren nach Getränken. Einer hieß Obstler, ein anderer Silvaner, ein dritter Korn. Dr. Harlaching hatte den Spitznamen Chardonnay, weil er diese Sorte Wein schätzte, wie Martin bei einem seiner Besuche in der Kanzlei festgestellt hatte. Im Angesicht der untergehenden Sonne auf dem Nockherberg las Martin mir aus dem jüngsten Brief vor. Der Biergarten war voll besetzt, und wir achteten darauf, nur dann eine frische Maß zu holen, wenn die Schlange am Ausschank kurz war. Chardonnay hatte die Fäkalebene erreicht. Martin faltete die Kopie des Briefes zusammen und steckte sie ein.
    »Möge es nützen!«, sagte er und hob das Glas. Irgendwo hatte er gelesen, dass dies die Übersetzung von Prost sei. Wir stießen an und tranken.
    »Wie wars mit Sonja?«, fragte er. Ich sagte: »Gut.«
    »Seid ihr euch näher gekommen?«
    »Nein.«
    Die Sonne schien mir genau ins Gesicht. Als würde sie mich meinen.
    Martin zeigte mir einen Artikel in der Zeitung vom nächsten Tag, die er kurz zuvor gekauft hatte.
    »Einsamkeit macht krank«, las er vor, »kann Depressionen und Ängste auslösen. Soziale Kontakte dagegen können heilen.«
    »Grüße an Chardonnay«, sagte ich.
    »Die Psychologin sagt«, sagte Martin, »nicht jeder, der allein lebt, ist gleich ein Fall für den Therapeuten. Das sagst du auch immer.«
    Ich hatte die Augen geschlossen.
    »Die Zahl der Angst und Depressionspatienten steigt an. Schuld an der Vereinsamung trägt zum Teil sicher die exzessive Nutzung des Internets. Unsinn. Aber die Therapeutin sieht nett aus. Trinken wir noch eine?«
    »Unbedingt.«
    Ich hörte Papiergeraschel und Gläsergeklirre. Dann Schritte auf dem Kies. Wie von einer alten schweren Person. Aber Martin war dünn. Er war dürr. Er war immer schlank gewesen, doch seit einigen Jahren körperte er ab, wie Frau Grauke vielleicht gesagt hätte. Wir waren beide in Taging aufgewachsen und er war es gewesen, der mich überredet hatte, Polizist zu werden. Von meiner Zukunft hatte ich nie eine Vorstellung gehabt. So wenig wie er. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären wir bei der Schupo geblieben, doch das wollte ich nicht. Ich wollte nicht mein Leben lang eine Uniform tragen und in einem uniformierten Auto fahren.
    Sollte Martin allerdings den Dienst quittieren, würde ich ihm nicht folgen. Vielleicht würde ich eines Tages gezwungen sein aufzuhören, dann würde ich nicht zögern. Selbst zu kündigen hatte ich nicht vor. Bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Die Ordnung meiner Arbeit befreite mich aus der Arktis der Wände, zwischen denen ich in vielen Nächten hauste.
    Ich schlug die Augen auf. Und las: »Die Bedeutung der Gruppe für Krankheit und Gesundheit.« Die Sonne war untergegangen.
    Mit zwei Maßkrügen in der Hand kam Martin zurück. Er knallte die Glaskrüge auf den Tisch, setzte sich und stöhnte. Er schwitzte. Auf seiner Knollennase traten die Adern dunkel hervor. Seine Haut war grau.
    »Zu wenig Gruppe«, sagte ich. Er sagte: »Möge es nützen.«
    Wir tranken.
    »Da macht das Beamtensein Sinn«, sagte Martin. Er warf einen letzten Blick auf das Foto der netten Therapeutin und stellte seinen Krug auf die Zeitung.
    »Glaubst du, die Schwestern wissen, wo der Mann ist?«
    »Nein.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil

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