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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sie dann keine Anzeige erstattet hätten.«
    »Vielleicht wollen sie ihn auf diese Weise zwingen zurückzukommen.«
    »Kann sein. Trotzdem müssen sie nicht wissen, wo er ist.«
    »Und der Lippenstift auf der Flasche?«, sagte er. Ich sagte: »Das ist die Spur.«
    »Er war also gar nicht so einsam in seiner Schusterei.« Martin trank schnell. Das bedeutete, er hatte noch etwas vor.
    »Schläfst du wieder nicht?«, sagte ich.
    »Doch.«
    Das sagte er immer.
    »Wo gehts hin?«, fragte ich. Ein Rest der großen Breze, die wir zu den Schweinswürsteln gegessen hatten, war noch übrig und ich biss ein Stück ab.
    »Muss sehen«, sagte er.
    »Komm mit mir mit!«
    Merkwürdige Idee. Eigentlich hatte ich vorgehabt, erst morgen noch einmal in die Kneipe zu gehen, in der ich heute schon gewesen war. Aber wenn ich Martin ansah, wollte ich plötzlich mit ihm zusammenbleiben, auf ihn aufpassen. Lächerlich. Er war dreiundvierzig, er passte selbst auf sich auf, seit er denken konnte, er hatte immer die Pläne geschmiedet, nicht ich. Er hatte damals dafür gesorgt, dass wir gut bezahlte Ferienjobs bekamen. Er hatte mich davon abgehalten, nach einem Jahr als Kommissar die Sache bleiben zu lassen. Er passte schon auf.
    Vielleicht wollte ich wegen mir, dass wir zusammenblieben. Vielleicht wollte ich nur nicht in meine Wohnung zurück. Vielleicht hatte mich die verlassene, staubige Schusterei mit dem zusammengeknüllten Schlafsack in der Ecke an etwas erinnert, das die Sonne, das Bier, der blühende Tag nicht verdrängen konnten. An einen Sonntag, an eine Küche.
    »Ich komm nach«, sagte Martin. Er hatte seine Maß ausgetrunken, wischte sich übers Gesicht und zündete sich eine Salem an.
    Ich erklärte ihm, wo sich die Kneipe befand. Er sagte:
    »Weiß ich doch.«
    Dann schwiegen wir. Um uns herum wurde gegessen, getrunken, geredet, Karten gespielt. Kinder weinten, Hunde bellten. Die Bäume waren übervoll von grünen Kastanienigeln. Der Geruch von gegrillten Fischen und Hühnern zog durch den Biergarten. Niemand hatte es eilig. Außer Martin.
    »Wieso war Sonja nicht bei ihrer Freundin zum Haareschneiden?«, sagte ich, als könnte ich ihn aufhalten. Er war schon aufgestanden.
    »Das hat sie nur so gesagt, sie hatte einen Termin wegen der Wohnungsauflösung.« Er stellte unsere schmutzigen Teller auf das orangefarbene Tablett und hielt nach jemandem Ausschau, der es abholte.
    »Sie trennen sich?«, sagte ich.
    Er sagte: »Im Urlaub kommts raus.«
    »Lass stehen!«, sagte ich. »Ich bleib noch da.«
    Er klopfte mir auf die Schulter und ging. Vor morgens um vier würde er nicht zu Hause sein. Auf diesen Touren wollte er für sich sein. Hinterher erzählte er mir davon. Falls ich ihn fragte. Von sich aus sagte er nichts. In den Bars wussten alle, dass er von der Polizei war, die meisten hielten ihn für einen Alkoholiker.
    Das war er nicht. Er war Trinker.
    So wie ich. Nur dass ich weniger trank als er. Aber die Gründe waren die gleichen.

4
    D ie Tür stand offen, und ich ging rein. Lauter Frauen. Sie saßen an Tischen und redeten. Als sie mich sahen, verstummten sie synchron. Hörte sich gut an.
    »Grüß Gott!«, sagte ich.
    Eine Frau sagte: »Was wollen Sie?«
    »Kennt jemand von Ihnen den Schuster Grauke?«
    Alle schwiegen. Ich auch. So verging eine halbe Minute in Harmonie.
    Die Räume des »Ragazza« waren karg eingerichtet, ein funktionaler Aufenthaltsort, kein Wohnzimmer. Die elf Frauen, die heute da waren, schätzte ich auf ungefähr zwanzig Jahre. Viele rauchten, einige tranken Orangensaft.
    »Ja«, sagte eine Frau in einem grauen Pullover, der viel zu warm war für diesen Abend.
    »Er ist verschwunden«, sagte ich.
    »Sind Sie von der Polizei?«
    »Ja.«
    »Zeigen Sie uns Ihren Ausweis!«, sagte eine Frau, die aus dem Nebenraum kam. Sie war älter als die anderen, Ende dreißig, und hatte einen fast kahl geschorenen Kopf. Was ihrer zarten Erscheinung nichts Abstoßendes gab, ihr Gesicht wirkte dadurch eher weicher, durchsichtiger.
    »Okay«, sagte sie und gab mir das blaue Plastikteil zurück. »Ich bin Sina Frank.«
    »Kennen Sie Herrn Grauke, Frau Frank?«
    »Sina«, sagte sie.
    Ich sagte: »Tabor.«
    »Flüchtig.«
    »Gibt es eine Frau hier, die ihn näher kennt?« Einige schüttelten den Kopf.
    »Waren Sie mal bei ihm?«, fragte ich Sina.
    »Ich bin mal vorbeigegangen, schon öfter, er saß immer da und hat gearbeitet, ich hab mir immer gedacht, wenn ich mal Schuhe zum Richten hab, geh ich zu ihm. Hat sich aber nicht

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