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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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mein Eindruck.« Viebels kleinster Fingernagel suchte etwas im Schnurrbart. »Die Frau hat ein Los, und das lastet auf ihr.«
    Vielleicht, dachte Süden, hatte der Ex-Steuereintreiber recht. Vielleicht gingen in diesem Moment still und leise die letzten Bullaugen in Viebels Hirn zu Bruch.
    »Die Frau hat ein Los, und das lastet auf ihr«, wiederholte Süden. »Wären Sie in der Lage, etwas konkreter zu werden? Was genau könnte Ilka dazu gebracht haben, sich umzubringen?«
    »Das hab ich nicht gesagt.« Viebel hob den Zeigefinger, dessen Ränder im gleichen Schwarz gehalten waren wie die übrigen. »Hab ich nie gesagt, dass sie sich umgebracht hat. So was sagt man nicht einfach so, wenn man keine Beweise hat.«
    »Und du hast keine«, sagte Ring, der ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß. »Also halt die Klappe, trink dein Bier, rauch deinen stinkenden Tabak und stör uns nicht.«
    »Ich stör niemand.«
    »Mich schon«, sagte Ring.
    Mich auch, sagte Süden nicht, stattdessen: »Ilka machte auf Sie einen deprimierten Eindruck.«
    »Die ist doch nicht deprimiert«, sagte Nickl laut, zu laut für seine in den vergangenen Minuten eingeschlafene Stimme. Ein lungenfüllender Husten erschütterte den Wirt. Seine geröteten Augen schienen zu lodern. Der Arm, den er sich vors Gesicht hielt, kam zu spät. Ungebremst fegte die bakterienpralle Luft aus Nickls breitem Körper quer über den Tisch, und nur ein Anfall maßloser Höflichkeit hinderte Süden daran, sich zu ducken.
    Charlotte Nickl warf einen besorgten Blick zum Stammtisch, wirkte aber nicht ernsthaft beunruhigt. Die vier anderen Männer tranken synchron aus ihren Gläsern und leerten diese gleichzeitig. Sofort machte Charlotte sich an der Zapfanlage an die Arbeit. Als sie die gefüllten Gläser zum Tisch trug, rang Nickl immer noch mit einem Nachhusten, für den er den Arm nicht mehr brauchte. Er umhustete entspannt sein Weißbierglas.
    »Zum Wohl, Freunde«, sagte Charlotte.
    »Merci, Charly«, sagte Werner Ring, der siebenundfünfzigjährige Hausmeister, dessen Oberarme, vermutete Süden, in einer früheren Existenz Oberschenkel gewesen waren. Ring trug ein schwarzes T-Shirt und darüber eine Jeansjacke und einen silbernen Ring im linken Ohr. Sein kahler Kopf glänzte von Schweiß, gleichzeitig verströmte er einen herben Geruch nach Rasierwasser. Seine Stimme klang beinah sanft, seine blauen Augen strahlten fürsorgliche Gelassenheit und Zufriedenheit aus. Die meiste Zeit hielt er seine Hände auf dem Tisch gefaltet, ab und zu zuckte sein Mund, wie bei einem scheuen Lächeln. »Pass auf, Claus«, sagte er, machte eine Pause und sah Viebel an. »Du setzt hier keine Märchen über die Ilka in die Welt, okay? Was redst du da von Depression? Hast du überhaupt eine Ahnung, was das ist? Du behauptest, die Ilka ist krank, und ich sag dir, die Ilka ist nicht krank, und jetzt sei einfach mal still. Okay?«
    »Der hat gesagt, sie ist depressiv.« Viebel zeigte auf Süden. »Ich hab gar nichts gesagt.«
    »Du hast gesagt, sie hat einen Sprung in der Schüssel«, sagte Baumann.
    »Hat er nicht gesagt«, rief Charlotte vom Tresen.
    »Sagst du eigentlich auch mal was?« Der Wirt warf Süden einen in tausend Sperrstunden geübten Vernichtungsblick zu.
    Süden warf seinen in tausend Vernehmungsstunden eingeübten Gelassenheitsblick in die Runde. »Bis jetzt habt ihr mir nichts erzählt, was ihr nicht auch schon der Polizei erzählt habt. Und der Polizei habt ihr erzählt, ihr habt keine Ahnung, wohin die Ilka verschwunden sein könnte. Ich bin hier, um etwas Neues zu erfahren.«
    »Ist doch alles neu«, sagte Viebel. Seine Stimme wies mittlerweile deutliche Risse auf. »Wenn ich sag, mit der Ilka war was, dann war da was, im Innern, was sie uns nicht zeigen wollt. Und das war so. Die hat was mit sich ausgemacht, nur mit sich allein. Und was? Weiß man nicht. Und das ist neu, Herr Süden, das haben wir der Polizei nicht erzählt.«
    »Hatte Ilka in jüngster Zeit Besuch?« Süden stellte fest, dass auch die Blicke der anderen anfingen zu schwächeln. »Führte sie ungewöhnliche Telefonate? Kam sie zu spät zur Arbeit, ist sie früher als sonst nach Hause gegangen?«
    Der Blick, den Süden Charlotte in der Hoffnung zuwarf, sie habe als Frau vielleicht etwas mehr erfahren als die Männer, wurde von den Blicken der Männer auf halbem Weg abgefangen und landete im Orkus ihrer Ahnungslosigkeit.
    »Die Charly brauchst gar nicht erst anstarren«, sagte Nickl. »Die hat

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