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Süden und das heimliche Leben

Süden und das heimliche Leben

Titel: Süden und das heimliche Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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einem gelben Schirm. Ilka bemerkte nur die Farben der Schirme, die Frauen vergaß sie sofort wieder.
    Womöglich, dachte sie, hauste doch eine verkappte Rächerin in ihr.
    Hältst du das für möglich, Mimi? Traust du mir so was zu?
    Sie traute es sich nicht zu.
    Dann verstummte sie für ein paar Minuten in Gedanken, bevor das Karussell von neuem begann. Warum eigentlich nicht?, dachte sie. Als Mädchen, fiel ihr ein, und sie erschrak fast darüber, wollte sie doch Rächerin werden. Mit Pfeil und Bogen, nachts in Schwabing, sie wollte Türen eintreten und Fenster einschlagen und dem Ersten, der sich ihr in den Weg stellte, einen Pfeil ins Herz schießen. Die Leute sollten Angst vor ihr haben, unbändige, grauenhafte Angst, Tag und Nacht. Niemand würde ihr Gesicht kennen, niemand ihre Spur verfolgen können, denn sie war unsichtbar und schnell und kannte jeden Winkel, jeden Hinterhof, jeden Weg diesseits und jenseits der Schleißheimer Straße.
    Mit solchen Phantasien schlief sie jahrelang ein und hatte es beinahe vergessen gehabt.
    Sie stand vor dem kleinen blumengeschmückten Grab, an diesem grauen, kühlen Julinachmittag, und in ihrem Kopf explodierte ein Haus. Lautlos, wie alles in ihrem Leben.
    Trotzdem hob sie den Kopf, als würde jemand sie anstarren, weil Flammen aus ihr schlügen. Die beiden Frauen am anderen Ende der Wiese zupften Unkraut aus einem Grab und schrubbten den Marmor.
    Er hätte sie nicht schlagen dürfen.
    Damals, als Mädchen, hatte sie diesen Satz ständig vor sich hergesagt, und natürlich reagierte niemand auf sie und erhörte ihre Bitte. Wie denn? Aus ihrem Mund kam kein Ton. Bloß Blut und Spucke, das reichte nicht, um sich verständlich zu machen, das war normal. Gerecht war das nicht, dachte sie jetzt wie schon vor vierzig Jahren, aber nicht zu ändern. So waren die Gesetze, sie musste sich fügen. Seltsam, ihre Schwester fügte sich nicht, für die galten andere Regeln, schien ihr. Paula hatte sie nie aus dem Mund bluten sehen. Wer weiß, vielleicht blutete sie heimlich.
    Ilka überlegte, ob sie ihre Schwester danach fragen sollte. Dann fiel ihr ein, dass sie keine Zeit mehr hatte. Der Tag ging zur Neige und sie mit ihm.
    Er hätte sie nicht so behandeln dürfen. Sie war selbst schuld. Sie hätte nicht zu ihm gehen dürfen und sagen wie ein blödes Ding: Kannst du mich wegzaubern, bitte?
    Warum hab ich das getan, Mimi?
    Mimi gab keine Antwort. Auch daran war sie gewöhnt – an die Stummheit um sie herum. Als gäbe es keine Worte und Wörter allüberall, bloß weiße Leerstellen und unverständliche Schriftzeichen.
    Und so war es auch. So war es immer gewesen, seit der Schule in der Hiltenspergerstraße, wo sie mit dem drei Jahre älteren Polder Gregor befreundet war, der dann wegzog und sie allein ließ. Zu dieser Zeit ging sie sowieso kaum noch in den Unterricht, sie hatte keine Zeit. Sie hatte nie Zeit. Zeit war was für Müßiggänger, sagte ihre Mutter und schlug ihr ins Gesicht, wenn etwas passiert war, das nicht hätte passieren dürfen. Ihr Vater hatte immer das Handtuch genommen. Das spielte keine Rolle. Am nächsten Tag arbeiteten sie wieder gemeinsam in der Werkstatt, sie polierte die Speichen und Rahmen der Fahrräder und durfte manchmal den Lohn vom Kunden kassieren. Ihr Vater war kein schlechter Mensch, er hatte das Geschäft und die Werkstatt aufgebaut und die Familie ernährt.
    Zum Zahnarzt sagte sie, sie sei hingefallen, wieder einmal, weil sie auf ein Fahrrad gestiegen sei, das zu groß für sie war, das kippte dann um und fiel ihr aufs Gesicht. Das war die Wahrheit, die erzählt werden durfte. Sie erzählte sie dem Dr. Bergener und auch der Frau Irgang in der Schule und dem Polder Gregor auch. Alle kannten dann die Wahrheit, und vielleicht stimmte es ja, und sie hatte nur geträumt, dass ihr Vater ihr mit dem nassen Handtuch ins Gesicht schlug, auf die Augen, auf die Nase, auf den Mund, und nicht eher aufhörte, bis sie am Boden lag und zappelte und am Weinen fast erstickte.
    Laut geschrien hatte sie selten, nur am Anfang. Das wusste sie nicht mehr.
    Das hatte alles so kommen müssen. Wie der Tod ihres Vaters. Gerade hatte sie noch aus dem Mund geblutet. Im nächsten Moment nur noch Tränen vergossen. Sie stand am Grab, das größer war als das, vor dem sie heute stand, und weinte und schluchzte unaufhörlich, der Rotz lief ihr aus der Nase. Auf dem Friedhof traute sich ihre Mutter nicht, sie deswegen zu bestrafen, erst hinterher, auf der Toilette des Gasthofs, da

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