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Süden und das Lächeln des Windes

Süden und das Lächeln des Windes

Titel: Süden und das Lächeln des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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diesen Terminen teilnahm, ohne viel zu reden. In Funkels Strategie als Chef des Dezernats bildete Weber den unerschütterlichen Pol zu Thon, bei dem man damit rechnen musste, dass er seine Höflichkeit, die normalerweise so unerschütterlich war wie seine Geduld mit mir, schlagartig vergaß, wenn ihm eine Frage nicht passte.
    »Nein«, sagte Funkel. Einige Sekunden herrschte Schweigen.
    »Schließen Sie eine Entführung aus?«, fragte eine Reporterin.
    »Was genau meinen Sie mit Entführung?«, fragte Funkel und kratzte sich an der schwarzen Stoffklappe über seinem linken Auge. Bei der Festnahme eines Drogenhändlers war er vor vielen Jahren so schwer verletzt worden, dass die Ärzte das Auge nicht mehr retten konnten.
    »Um Geld zu erpressen«, sagte die Frau, die einen dicken blauen Schal um den Hals trug.
    »Wir schließen nichts aus«, sagte Funkel.
    »Die Eltern der beiden Kinder sind nicht sehr wohlhabend«, sagte Thon, den Blick zur Tür am anderen Ende des Raumes gerichtet, wo Martin und ich standen.
    »Wir müssen also von einem Sexualtäter ausgehen«, sagte die Frau mit dem Schal.
    »Vorerst gehen wir nur davon aus, dass die beiden Kinder nicht nach Hause gekommen sind«, sagte Funkel.
    »Wir haben im Moment keinen Anlass, ein Verbrechen in Erwägung zu ziehen.«
    Natürlich hatten wir einen Anlass. Das bloße Verschwinden der Kinder war Anlass genug, und doch zweifelten wir daran. In anderen Bundesländern war es zweimal passiert, dass zwei Kinder zur gleichen Zeit an derselben Stelle verschwanden und, wie sich hinterher herausstellte, in das Auto eines Fremden gestiegen waren, wobei es sich in beiden Fällen um Frauen gehandelt hatte, von denen jede unter starkem psychischem Stress stand, eine von ihnen war schwer depressiv und verhaltensgestört. Beide hatten ihre Opfer nach wenigen Stunden freigelassen und waren bald darauf festgenommen worden.
    Wir konnten uns an keinen Fall erinnern, bei dem ein Sexualtäter zwei Kinder gleichzeitig entführt und missbraucht hatte.
    Trotzdem war – wie immer – alles möglich, Kinder und Jugendliche, vor allem Mädchen, verschwanden und tauchten nie wieder auf. Nie würde es einen Grabstein mit ihren Namen geben, nie bekämen die Eltern die Chance sich zu verabschieden, nie wurden ihre Daten aus unseren Computern gelöscht. Und trotz allem Trotzdem: An diesem Donnerstag, dem ersten Tag der offiziellen Fahndung, glaubten wir nicht an ein Verbrechen, obwohl Martin die Meldung ans LKA mit einem entsprechenden Vermerk versehen hatte, damit ihn der Kollege Korn nicht fünf Minuten später anrief und fragte, ob er etwa davon ausgehe, dass die Kinder einen Bummel über die städtischen Weihnachtsmärkte machten.
    Woran wir unseren Glauben hängten war etwas, das wir den Journalisten in dieser Form niemals hätten sagen können, weil sie angesichts vieler Tragödien mit verschwundenen Kindern während der vergangenen Jahre reflexartig von einem ähnlichen Schicksal ausgingen und die Art ihrer Berichterstattung schon feststand, unabhängig von den Fakten und dem frühen Zeitpunkt unserer Ermittlungen.
    Eine Lehre, die ich aus zwölf Jahren Arbeit auf der Vermisstenstelle für mich gezogen hatte und die mir Paul Weber, als ich ihn fragte, was er davon halte, sofort bestätigte, war: Wenn jemand – ein Erwachsener oder ein Jugendlicher oder ein Kind – ohne jegliche Voraussetzungen verschwand, dann mussten wir davon ausgehen, dass er tot war.
    Bis zu diesem vierzehnten Dezember gab es für diese These keine Antithese. Natürlich gelang es uns nicht in allen Fällen die Leiche zu finden, und bei etwa zwanzig Totauffindungen im Jahr blieb die Todesursache ungeklärt, weil es sich meist um derart verunstaltete Wasserleichen handelte, an denen die Künste des Pathologen versagten.
    Einen Vermissten jedoch, bei dem wir nach monatelanger intensivster Arbeit keinen Grund für sein plötzliches Wegsein nachweisen konnten, würden wir nicht lebend wiederfinden. Davon waren wir überzeugt.
    Was uns im Fall von Timo und Sara davon abhielt, zu diesem Zeitpunkt ein Verbrechen in Erwägung zu ziehen, waren zwei Details, die wir in den Mittelpunkt unserer Überlegungen innerhalb der Sonderkommission stellten: Saras Ohrfeige für den Jungen auf dem Schulhof und ihr Anruf in der Wohnung von Carola Schild.
    »Sie wissen mehr als ihre Eltern wissen«, sagte Sonja Feyerabend in unserer ersten Besprechung am frühen Donnerstagnachmittag. »Sie haben sich verabredet und verstecken sich

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