Süden und das Lächeln des Windes
jetzt.«
»Vielleicht wissen ihre Eltern auch mehr, als wir wissen«, sagte ich.
»Und Timos Vater ist immer noch nicht da.«
»Sollen wir Carola Schild ins Dezernat bestellen?«, fragte Thon.
»Das ist nicht nötig«, sagte ich.
»Bist du sicher?«
»Ja«, sagte ich.
Thon kratzte sich mit dem Finger am Hals und klopfte mit der Spitze seines Zigarillos auf den Tisch. Rauchen durfte er nicht, weil Sonja anwesend war.
»Es ist doch unmöglich, dass die beiden niemand gesehen hat!«, sagte Funkel.
Zu diesem Zeitpunkt – die ersten Berichte waren im Fernsehen gelaufen – hatten zwar schon zirka vierzig Leute angerufen, doch ihre Angaben brachten uns nicht voran.
Wir hatten nichts, und nichts geschah.
Am Freitag waren die Zeitungen voll von Berichten über die Kinder, ihre Fotos prangten auf der ersten Seite, weiter hinten kamen Mitschüler zu Wort, und schließlich folgten die unvermeidlichen Hinweise inklusive der Fotos, die jeder Leser von früher kannte, auf vergangene Vermißtenfälle, bei denen Kinder entführt, missbraucht und ermordet worden waren. Die Telefone im Dezernat klingelten ununterbrochen.
»Ein grünes Auto mit Gepäckträger, direkt vor dem Baumarkt…«
»In der Linie U4 Richtung Max-Weber-Platz, mit einer Frau, hat ausländisch ausgesehen…«
»Am Hauptbahnhof, da wo die Jugendlichen immer stehen, oben beim ›Burgerking‹, ich wollt sie schon fragen, was sie allein da machen, aber dann…«
»Er ist an mir vorbeigerast, ein schwarzer Kombi, dunkel getönte Scheiben, ich hab nur die Hand gesehen, so eine Kinderhand an der Glasscheibe…«
Wir notierten jede Aussage, jede Adresse, jeden Namen, wir riefen die Taxizentralen an, die Krankenhäuser, wir versuchten, jeden einzelnen Lokführer der S-Bahnen zu erreichen, der am Mittwochnachmittag Dienst hatte und auf der Strecke zwischen Unterhaching und München-Ost unterwegs war. Wir verteilten Kopien der Fotos in den S- und U-Bahnen, wir beantragten einen Hubschrauber, der noch am Donnerstagabend über Haidhausen und Unterhaching kreiste. Fünf Streifenwagen fuhren mehrmals die Strecke zwischen Elternhaus und der Wohnung von Carola Schild in der Lothringer Straße ab, wir klingelten an jedem Haus am Falkenweg und in den angrenzenden Straßen, durchsuchten Dachgeschosse und Keller, die als Verstecke hätten dienen können, auch in der Schule, und wir starteten am Freitagmorgen eine Suche mit Hunden und Pferden im Perlacher Forst und im Fasanenpark, der nicht weit von den Wohnungen der Kinder entfernt lag, wobei die Kollegen von Waldarbeitern, die sich in der Gegend auskannten, unterstützt wurden.
Am Freitagnachmittag berief Funkel eine Sitzung im kleinen Kreis ein, an der außer mir nur Martin, Thon, Sonja Feyerabend, Paul Weber und Freya Epp teilnahmen.
»Die Maschinerie läuft ausgezeichnet«, sagte Funkel.
»Die Presse kriegt ihre Bilder, wir tun, was wir können. Aber ich glaub nicht, dass wir Erfolg haben werden.«
Keiner von uns widersprach.
»Die Kinder können sich irgendwo versteckt haben«, sagte Sonja. »Das bedeutet nicht, dass sie in Sicherheit sind.«
Sie trank grünen Tee und tupfte sich die Nase, die fabelhaft gerötet war.
»Morgen früh sprichst du«, sagte Funkel und meinte mich, »mit dem Ehepaar Tiller, dann mit Saras Mutter und dann noch einmal mit Carola Schild. Und dann möcht ich, dass wir einen entscheidenden Schritt weiter sind. Wenn wir schon so tun, als wären wir überzeugt, dass den beiden nichts passiert ist, dann muss es neben der Ohrfeige und dem Anruf noch was geben, das uns hilft, eine Familiensache, etwas hinter den Kulissen, in einem abgesperrten Zimmer. Und für abgesperrte Zimmer bist du zuständig.«
»Ja«, sagte ich.
»Wenn die Presse mitkriegt, dass der Vater in Wolfsburg bleibt und wir ihn nicht holen, kriegen wir Ärger«, sagte Thon. »Und das kotzt mich jetzt schon an. Wir bringen ihn hierher.«
»Die Kollegen sollen ihn erst einmal vernehmen«, sagte ich.
»Nein!«, sagte Thon. »Ich will den hier haben! Sein Sohn ist verschwunden, und ich will mit dem Vater persönlich sprechen! Und zwar morgen früh! Bitte rufen Sie die Kollegen an…« Er wandte sich an Freya Epp.
»Sie sollen ihn runterbringen, im Auto! Heute Abend noch!«
Freya stand auf und verließ Funkels Büro, wo die Besprechung stattfand.
»Er wird nicht kommen«, sagte ich.
»Das ist schlecht«, sagte Funkel.
»Das ist Scheiße!«, sagte Thon, der solche Ausdrücke selten benutzte. Er nestelte an seinem
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