Süden und das Lächeln des Windes
weiß, dass Timo gern zu ihr geht, und deshalb geht sie mit.« Mit einem Ausdruck von Abscheu streifte sie die Handschuhe ab und warf sie auf den Tisch, direkt auf den Recorder. Bevor sie danach greifen konnte, legte ich die Handschuhe neben das Aufnahmegerät.
»Sie haben Ihrer Tochter verboten zu Carola zu gehen«, sagte ich.
»Tausendmal. Aber sie hört nicht. Sonst folgt sie aufs Wort, aber bei diesem kleinen Timo… Wie spät ist es?«
»Timo ist ihr bester und innigster Freund«, sagte ich.
»Was meinen Sie mit innig?«, fragte sie schnell.
»Sie vertraut ihm, sie tröstet ihn, wenn seine Mutter ihn wieder einmal geschlagen hat.«
»Woher wissen Sie das?«
»Frau Berghoff hat es mir erzählt.«
»Dass Sara ihren Sohn tröstet?«
»Nein«, sagte ich, »dass sie ihn manchmal schlägt, weil sie nicht mit ihm fertig wird.«
»Das ist ein Rumtreiber!« Bettina Tiller drehte sich um und warf einen Blick zur Tür, als erwarte sie jemanden.
»Der verführt die Sara, der ist es nämlich, der Sachen anstellt, und Sara hilft ihm dann.«
»Was für Sachen?«
»Was weiß ich! Er treibt sich rum, das reicht doch!«
»Sara hat Timo ins Kino mitgenommen«, sagte ich.
»Garantiert nicht!« Sie sah mich wütend an. »Das würd die nie machen. Timo will immer ins Kino. Der ist neun! Was hat der in einem Kino verloren? Er ist es, der Sara zu so was anstiftet, den müssten Sie mal in die Mangel nehmen! Und wenn Sie ihm zu nahe kommen, dann schießt er auf sie, so einer ist das! Er schießt sogar auf seine eigene Mutter.«
Meine nächste Frage würde wieder zu Bettinas verhaftetem Mann zurückführen, aber mir blieb keine andere Wahl. »Kennen Sie einen Mann mit dem Namen Diethard Enke, seine Freunde nennen ihn Didi?«
»Enke?«, sagte sie und klopfte auf ihren Anorak, als entferne sie Staub oder Schnee. »Kenn ich nicht.«
Ich sagte: »Ihr Mann hat den Namen nie erwähnt?«
»Weiß ich nicht. Wo ist er jetzt?«
»Im Polizeipräsidium in der Ettstraße«, sagte ich. »Sie können gleich mit uns mitfahren, wenn Sie möchten, wir bringen Sie hin.«
»Ich hab ein eigenes Auto«, sagte sie.
»Was Ihnen lieber ist«, sagte ich. »Kennen Sie einen Freund oder Bekannten oder Arbeitskollegen Ihres Mannes, der eine leer stehende Wohnung in der Stadt hat, in der Sara vielleicht schon mal war?«
»Was meinen Sie damit? Was soll sie da getan haben? Was wollen Sie mir unterstellen?«
»Ich unterstelle Ihnen nichts, Frau Tiller«, sagte ich.
»Kennen Sie eine solche Wohnung?«
»Nein.«
Sollte sie Recht haben? Wusste Carola Schild tatsächlich, wo sich die Kinder aufhielten? Kannte sie womöglich die Adresse? Vielleicht hatte Susanne Berghoff etwas verwechselt, vielleicht hatte Timo sich versprochen, vielleicht hatte er Sara nicht richtig zugehört und einen falschen Bezug hergestellt. Oder hatte er absichtlich seine Mutter belogen?
»Kann ich jetzt endlich zu meinem Mann?«, fragte Bettina Tiller.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Festnahme Ihres Mannes und dem Verschwinden Ihrer Tochter gibt?«, fragte Martin, den unser zähes Vorankommen bei dieser Vermissung unübersehbar reizte und stresste.
»Das müssen doch Sie wissen!«, sagte Bettina, laut wie am Anfang des Gesprächs.
»Wir wissen es nicht«, sagte ich.
»Dann wirds höchste Zeit!«, sagte sie und stand auf.
»Es wäre klug«, sagte Martin und schaltete den Recorder ab, »wenn Sie für Ihren Mann Waschzeug, frische Unterwäsche und einen Schlafanzug mitnehmen würden.«
»Bitte?« Vor Schreck begann sie hektisch zu atmen.
»Einen Schlaf… einen Schlafanzug?«
»Ihr Mann wird heut nicht zu Hause übernachten«, sagte Martin.
Wortlos lenkte Martin den Opel zurück in die Innenstadt. Den Recorder am Ohr, saß ich auf der Rückbank hinter dem Beifahrersitz, lehnte mich in die Ecke und hörte das Band nach Aussagen ab, die vielleicht mehr bedeuteten, als ich während des Gesprächs wahrgenommen hatte.
»Gehen wir was essen?«, fragte ich. Martin gab keine Antwort.
Ich rief im Dezernat an und erkundigte mich nach dem Stand der Ermittlungen.
»Thon hat die Großfahndung eingestellt«, sagte Sonja Feyerabend. »Er wartet auf deinen Bericht. Habt ihr was Neues?«
»Ja«, sagte ich. »Eine kleine Hoffnung auf den Zufall.« Unter den Tausenden von schwierigen Fällen, die ich im Kommissariat 114 bearbeitet hatte, gab es keinen Einzigen, bei dem nicht zu irgendeinem Zeitpunkt der Zufall eine Rolle bei der Aufklärung
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