Süden und das Lächeln des Windes
sah so lange hin, bis ich nur noch einen grellen Brei wahrnahm, ich blieb stehen, verschränkte die Arme, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Zigarettenrauch stieg mir in die Nase, und ich atmete ihn ein.
Ob der Hinweis von Susanne Berghoff auf den Freund der Familie Tiller eine neue, ernsthafte Spur war, würden wir hoffentlich bald klären können. Wenn die Journalisten erfuhren, wie wenig sich die Eltern um ihre vermissten Kinder sorgten, würde die Stimmung bei der Berichterstattung dramatisch kippen, die Artikel würden sich in Anklagen verwandeln, voller Unterstellungen und den üblichen Verdächtigungen. Missbrauchsgerüchte würden auftauchen und gleichzeitig Vorwürfe gegen uns, die wir einen teuren Apparat in Bewegung gesetzt hatten, obwohl dazu allem Anschein nach kein Bedarf bestand, abgesehen davon, dass wir nicht das Geringste erreicht und es nicht einmal geschafft hätten, das falsche Spiel der Eltern zu durchschauen. Ich stellte mir vor, mit welcher Motivation und in welcher Laune Volker Thon danach in die Pressekonferenz gehen würde. Bisher allerdings, das musste ich zugeben, hielt sich die Sensationsgier der Medien in Grenzen, was vor allem auf die ungewöhnliche Haltung der Eltern zurückzuführen war, die noch kein einziges Interview gegeben hatten, eine absolute Ausnahme, wenn ich an andere Fälle aus der nahen Vergangenheit dachte. Frühestens nach ein oder zwei Tagen brach ein Angehöriger, oft sogar ein unmittelbar Betroffener sein Schweigen, egal, wie fürchterlich und intim die Vorfälle sein mochten. Für Mütter und Väter verkörpert besonders das Fernsehen eine diffuse Hoffnung auf Erlösung, oftmals auf Vergebung. Denn zum Verschwinden eines Kindes, das wissen sie, auch wenn sie diesen Gedanken am liebsten aus ihrem Kopf verbannen würden, gehören die Eltern mit dazu, sie sind die Zeugen im Hintergrund, die zu jeder Zeit mehr wissen, als sie sich eingestehen wollen, die schweigen oder wegsehen oder auf eine Weise handeln, die ihnen nicht zusteht. Und die Leute vom Fernsehen, so reden sie sich ein, hören ihnen vorurteilslos zu und füllen ihre Verlorenheit, die niemand außer ihnen selbst zu verantworten hat, mit farbigen Bildern, Stimmen und Musik.
Doch darüber zu urteilen stand mir nicht zu. Auch wir benutzten gelegentlich die Presse für unsere Zwecke, wenn auch widerwillig, und ich selbst fand meinen Namen und mein Foto in Zeitungen und im schlimmsten Fall mich selbst in einer Fernsehsendung wieder, ein langhaariger Kriminalist in an den Seiten geschnürten Lederhosen, der einen Fall gelöst, also nichts weiter als seine Arbeit getan hatte.
Als ich die Augen aufmachte, blies Martin mir seinen Salemrauch ins Gesicht.
»Woran genau?«, fragte er.
»Wir müssen endlich mit Frank Tiller sprechen«, sagte ich und berichtete ihm von der mysteriösen Wohnung.
»Das wird dauern, bis wir ihn sprechen können«, sagte Martin. »Da war ein Kollege vom Raub vorhin am Telefon, sie haben Frank Tiller festgenommen, Verdacht auf Diebstahl und Veruntreuung.«
Er hauchte in seine Faust, und ich nahm ihm die braune Mappe aus der Hand, in der er die Kopien der Vermißtenanzeige, sein Schreibzeug und den Recorder aufbewahrte. Martin schnippte die Zigarettenkippe in den Schnee, von dem sie wie von einem Stein abprallte, dann rieb er sich die Hände, hauchte sie wieder an und steckte sie in die Hosentaschen. Obwohl er eine schwarze Wollmütze und eine Daunenjacke trug, fror er leicht, wie so oft. Manchmal fror er sogar mitten im Sommer, und dann bat ich ihn sich untersuchen zu lassen, und er schüttelte bloß den Kopf, als wisse ich nicht, dass bei diesem Vorschlag seine Ohren jedes Mal schlagartig ertaubten. An diesem Vormittag auf dem verlassenen Spielplatz hatte er eine graue Gesichtsfarbe, die nicht einmal die Kälte veränderte.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Mehr weiß ich nicht«, sagte Martin. »Die Kollegen waren mitten in der Festnahme, sie wollten uns nur informieren, sie haben ausnahmsweise unsere Hausmitteilungen gelesen, wo der Name Tiller vorkommt.«
Ich nahm das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Präsidiums. Im Dezernat 11 gab es keine Abteilung für diese Art von Kriminalität.
»Die Kollegen haben gerade mit der Vernehmung begonnen«, sagte Oskar Inzinger, der Leiter des zuständigen Kommissariats. »Also erwiesen ist, dass er Geld aus der Kantinenkasse geklaut hat, rund vierzigtausend Euro, das steht fest, also, das können wir ihm
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