Süden und der glückliche Winkel
Mal schloss er die Tür hinter sich, als wolle er etwas vor mir verbergen. Mit gekühlten Flaschen, deren Schnappverschlüsse er schon geöffnet hatte, kam er zurück, setzte sich und hob die Flasche.
»Möge es nützen!«, sagte er. »Das hab ich mir gemerkt.« Er nahm einen kurzen Schluck und stellte die Flasche mit einem Klirren auf den Tisch. »Im Mäßigkeitsverein hätten sie uns damals nicht aufgenommen.«
»Nein«, sagte ich.
Als hätte mein Lidschlag zu lange gedauert, war es plötzlich hell vor dem Fenster.
»Guten Morgen«, sagte Korbinian, der sich vielleicht auf ähnliche Weise wunderte.
»Guten Morgen«, sagte ich.
Ich hörte, wie er tief einatmete. Dann erhob er sich für einen Moment, stemmte die Hände in die Hüften und setzte sich wieder. Entgegen meiner Gewohnheit blieb ich die ganze Zeit sitzen, in einem nahezu behaglichen Zustand.
»Jeden Tag«, sagte Korbinian. »Ich geh von der Ausstellung direkt auf den Turm.«
»Wie machen Sie das?«, sagte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich tu es einfach.« Wir schwiegen.
»Als Kind«, sagte er, und die Geräusche von der Straße wurden lauter, »hab ich mich oft zwischen die Türme am Sendlinger Torplatz gestellt. Bin dann im vierzehnten Jahrhundert gewesen und hab die Händler begrüßt, die aus der Welt in unsere kleine Stadt gekommen sind, ich hab Wegzoll verlangt, und sie haben mich mit Obst und süßen Sachen bezahlt. Hat aber nichts genützt.«
Ich schwieg.
»Wenn Sie einmal verkehrt sind, bleiben Sie verkehrt«, sagte Korbinian. »Ich mach meinen Eltern keinen Vorwurf. Lebt Ihr Vater noch?«
Ich sagte: »Er ist verschwunden. Er ging weg, als ich sechzehn war. An einem Sonntag.«
»Hat er keinen Brief hinterlassen?«
»Doch«, sagte ich.
»Warum ist er weggegangen?«
»Weil er musste«, sagte ich. »Er hatte keine andere Wahl.«
»Und er ist nie wieder zurückgekommen?«
»Nein«, sagte ich.
Eine Amsel ließ sich auf dem Rand eines Blumenkastens nieder, dem Zimmer zugewandt, verharrte reglos und flog davon.
»Einen Satz aus dem Brief habe ich auswendig gelernt«, sagte ich. »›Gott ist die Finsternis, und die Liebe das Licht, das wir ihm schenken, damit er uns sehen kann.‹ Mein Vater war kein gläubiger Mensch. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Glauben Sie an Gott?«, fragte Korbinian.
»Manchmal«, sagte ich. »Wenn ich glücklich bin. Glauben Sie an Gott?«
»Habs versucht, ich glaub, es ist mir nicht gelungen. Was bedeutet der Satz von Ihrem Vater?«
»Vielleicht«, sagte ich, »bedeutet er, dass Sie zu Ihrer Frau zurückkehren sollten.«
»Herr Süden!« Er wandte den Kopf zu mir und sagte mit beschwingter Stimme: »Ich hab meine Frau doch nicht verlassen!«
»Meine Frau«, sagte Korbinian, »führt ein gediegenes Leben, das braucht sie wegen mir nicht aufzugeben.« Ich schwieg.
Wieder hörte ich wie aus einer fernen Zeit das Schnauben eines Pferdes und Hufgetrappel auf Kopfsteinpflaster.
Korbinian beugte sich vor, die Hände um die Armlehnen geklammert. »Meine Frau kaut ihren Kaffee. Das hab ich noch nie ertragen. Sie kaut ihn, als wär der Kaffee was zu essen, bevor sie ihn runterschluckt. Manche Menschen haben Angewohnheiten, die treiben andere in den Wahnsinn rein.« Dann lehnte er sich zurück und gab einen kurzen erschöpften Seufzer von sich, der mich auf kuriose Weise an Nero, den blinden Hund, erinnerte.
»Vielleicht«, sagte ich, »haben Sie geheiratet, weil Sie es nicht geschafft haben, allein zu bleiben, so wie es Ihnen entsprechen würde.«
Wie schon oft antwortete er lange nicht. Dann sagte er wie zu sich selbst: »Wollen Sie mir mein Leben erklären?«
Ich schwieg in das metallische Fauchen einer Straßenkehrmaschine hinein.
Korbinian schlug die Beine übereinander und legte die Hand aufs Knie.
»Wie kamen Sie überhaupt auf die Ausstellung?«, sagte ich. »Hat Sie jemand darauf aufmerksam gemacht?«
»Ja«, sagte er. »Nero. Er hat mich hingeführt.«
»Von der Gundelindenstraße bis zum Haus der Kunst.«
»Quer durch den Englischen Garten. Im Schneetreiben.«
»Und wieder zurück«, sagte ich. Korbinian reagierte nicht.
»Einmal haben Sie vergessen ihn auszuführen«, sagte ich.
»Weil Magnus gewollt hat, dass wir uns treffen. Und ich hab ja gesagt. Unvorstellbar!« Aufgeregt sprach er weiter, doch sein Körper blieb ruhig. »Da hab ich begriffen: Jetzt weg! Ich bin zum Hund, bin einmal mit ihm um den Block und weg war ich. Und hier bin ich. Und jetzt zeig ich Ihnen
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