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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Alter im Gesicht. Wie spät ist es?«
    »Ich habe keine Uhr.«
    »Ich auch nicht«, sagte Korbinian. »Also bleiben wir noch. Meine Frau wär auch auf Elena eifersüchtig, und Gerlinde auch. Die auch.«
    »Gerlinde Falter?«, sagte ich.
    »Die aparte Kassiererin mit den engen Kleidern«, sagte er.
    »Sie duzen sich. Das hat sie mir verschwiegen.«
    »Sie kann sehr verschwiegen sein«, sagte Korbinian.
    »Wäre Nike auch eifersüchtig auf Elena?«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Korbinian. »Nike steht den Frauen näher als den Männern, haben Sie das nicht gemerkt?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Manche Dinge sieht man einfach nicht«, sagte Korbinian, »auch wenn man direkt davorsteht.«
    »Wann hat Ihre Fremdheit begonnen?«
    »Mit der Geburt.«
    »Sie waren mitten in der Stadt zu Hause«, sagte ich.
    »Ich bin praktisch auf dem Sendlinger Torplatz aufgewachsen. Zwischen der Isar und dem Stachus hab ich jedes Haus, jeden Hinterhof und jeden Sandler gekannt, ich hätt da blind rumrennen können. Und in den Nachtbars war ich auch, die dann in der Kreuzstraße aufgemacht haben, ich hab die nackten Mädchen gesehen, eine hat mich mal mit in ihr Zimmer genommen, das war ein Erlebnis für einen Fünfzehnjährigen. Das war nicht wirklich. Ich hab halt so mitgelebt. Und dann hab ich gedacht, wenn ich heirat, fällt mein Alleinsein nicht so auf.«
    »Fürs Alleinsein muss man sich nicht schämen«, sagte ich in Erinnerung an Paul Webers Worte.
    »Muss man schon!«, sagte Korbinian. »Ich hab mich immer dafür geschämt. Immer. Dauernd. Bis vor einem halben Jahr. Bis ich den glücklichen Winkel entdeckt hab. Jetzt schäm ich mich nicht mehr. Und ich geh auch nie wieder weg. Nie wieder geh ich hier weg. Nie wieder geh ich wo fremd. Nie wieder.«
    Später in der Nacht führte er mich in sein Zimmer am Jakobsplatz. Auf dem Balkon wuchsen zwei englische Rosen und Efeu, und von der Decke hing ein zwiebelförmiges Vogelbauer, in dem ein ausgestopfter zitronenfarbiger Zeisig hockte.

14
    Sein Vater, sagte Cölestin Korbinian, sei auf demselben Friedhof beerdigt wie Carl Spitzweg.
    Dann sagte er lange Zeit nichts. Die Tür zum Balkon stand offen. Einmal hörten wir das Trappeln von Pferdehufen auf Steinpflaster und ein aggressives Schnauben. Wir saßen auf alten, mit Samt überzogenen Stühlen, rechts und links eines runden Holztisches mit geschwungenen Beinen. In einer Ecke stand ein breites Metallbett. Im bleichen Schimmer einer Stehlampe, an deren Schirm Kordeln hingen, leuchteten Kopfkissen und Plumeau in einem unwirklichen Weiß, als falle ein spezielles Licht darauf. An der Wand hinter uns hingen eine grüne quadratische Uhr mit schmalen Gewichten und ein Gemälde, das eine Waldlandschaft zeigte, die mich an eine Gegend in der Nähe der Isar erinnerte. Ein Geruch nach Desinfektionsmittel und feuchtem Holz durchzog den niedrigen Raum.
    »Ihr Lieblingsbild ist der mit übereinander geschlagenen Beinen dasitzende Mann auf dem Petersturm«, sagte ich. Korbinian antwortete erst nach einer langen Pause, in der er Bier trank, die Beine übereinander schlug und sich gegen den gepolsterten Stuhlrücken lehnte, nachdem er die meiste Zeit nach vorn gebeugt dagesessen hatte.
    »Das können Sie nicht wissen«, sagte er.
    »Frau Falter hat es mir erzählt«, sagte ich.
    »Die Gerlinde.« Dann legte er die linke Hand aufs Knie, wie der Mann auf dem Gemälde, und blickte zur Balkontür.
    In der Ferne schlug eine Uhr vier Mal. Die Vögel fingen an zu singen, und in der Abgeschiedenheit des Zimmers erwarteten wir zeitlos den Morgen.
    Ich sagte: »Sie sind der Mann auf dem Turm.«
    »Vermutlich«, sagte Korbinian. Dann wandte er mir den Kopf zu, was er selten tat. »Haben Sie gesehen, dass an dem Turm acht Uhren angebracht sind?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Wie Valentin schon festgestellt hat: Da können jetzt acht Leute gleichzeitig auf die Uhr schauen.« Er drehte den Kopf weg, aber ich sah, dass er lächelte.
    »Sie verbringen jeden Tag auf dem Turm«, sagte ich.
    »Auf diese Weise bin ich mitten in der Stadt und trotzdem für mich. Bloß die Absperrung stört mich, das Gitter. Ist für Leut, die runterspringen wollen. Die müssen jetzt erst umständlich raufklettern, macht natürlich keiner, das hält bloß auf. Früher sind öfter Leut runtergesprungen. Überlebt hat keiner. Trinken wir noch ein Bier, bevor es hell wird?«
    »Unbedingt«, sagte ich.
    Er stand auf, nahm die zwei leeren Flaschen und ging in einen Nebenraum, vielleicht eine Küche. Jedes

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