Süden und der Luftgitarrist
und senkte den Kopf. Er wankte und brachte keinen Schritt zustande. Mit einer fast schüchternen Bewegung legte Martin seine Hand auf Edwards Rücken.
»Glaubt ihr, es ist ihm was passiert?«, sagte Edward mit müder Stimme. »Ist er tot?«
Wenn ich jemals vor etwas davongelaufen wäre, dann vor dieser Frage, die mir in hunderten von ähnlichen Situationen gestellt worden war und auf die ich hunderte Male mit einer Lüge geantwortet hatte, weil ich mich weigerte, das Leben für wunderlos zu halten.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
12
G egen fünf Uhr morgens parkte ich den anthrazitfarbenen Opel im Hof des Dezernats, und wir machten uns auf den Weg zum Hauptbahnhof, um zu frühstücken. Keiner von uns hatte Hunger, wir hatten nur, jeder für sich und ohne dass wir darüber gesprochen hätten, das Bedürfnis, ein paar Minuten unter Leuten zu sein, die es wirklich gab, in einer Halle, in der Lichter brannten und es nach frischem Brot und Kaffee roch, unter einem Stimmenhimmel aus Stahl, in einer großen Anwesenheit. So standen wir an einem der runden Stehtische nahe der Glaswand, die den gastronomischen Bereich von der Bahnhofshalle trennte, tranken heißen schwarzen Kaffee, aßen Croissants und schwiegen. Immerhin hatten wir einen Teil des Falls geklärt, für Edward Loos würden wir einen Vermisstenwiderruf ans LKA schicken, Martins Intuition hatte sich als richtig erwiesen, auf eine Weise jedoch, die er nicht ahnen konnte. Was für Ermittlungen in einem Mordfall galt, traf auch auf unsere Arbeit zu, drei Aspekte bildeten den Mittelpunkt aller unserer Überlegungen: das Augenfällige, das Naheliegende, das Wahrscheinliche. Im Fall Aladin Toulouse war der Abbruch des Kontakts zu seinem Halbbruder besonders augenfällig, dafür gab es keine Erklärung, ebenso wenig für die Tatsache, dass Aladin Edward seinen ständigen Aufenthalt bei Genoveva Viellieber verschwiegen, andererseits aber von seiner engen Freundschaft zu ihr erzählt hatte. Augenfällig waren weiter das plötzliche Verschwinden in der Silvesternacht und das totale Abtauchen danach. Vom ersten Januar dieses Jahres an verlor sich die Spur von Aladin Toulouse , bei niemandem hatte er sich mehr gemeldet, nicht einmal bei seinem Halbbruder, mit dem er den Plan gefasst hatte, das Land zu verlassen. Davon wiederum hatte er gegenüber seiner Vertrauten und Geliebten Genoveva kein Wort erwähnt.
Weitgehend rätselhaft erschien mir nach wie vor sein Auszug aus dem Haus in der Irisstraße. Seine Mitbewohner Rick und Bille hatten offensichtlich keine Ahnung, und Genoveva Viellieber wusste auch nicht mehr, als dass er an jenem Abend im Fasching plötzlich mit einem gelben Hut und einer Sonnenbrille vor ihrer Tür stand. Wie sie uns erklärte, hatte sie ihn mehrmals nach dem Haus gefragt, ohne eine klare Antwort zu erhalten. Sie selbst sei in den folgenden Monaten das eine oder andere Mal durch die Irisstraße spaziert, um einen unauffälligen Blick auf das Haus zu werfen, doch sie habe nichts Verdächtiges bemerkt. Aladin hatte begonnen, ein unstetes Leben zu führen, sein Zufluchtsort war Genovevas Wohnung, und seine Fluchtpunkte waren die Lokale von Gretl, Niki und anderen Wirten.
Als ich in der Bahnhofshalle neben Edward stand, der sich noch ein zweites Hörnchen geholt und es ebenso gierig verschlungen hatte wie das erste, dachte ich, vielleicht hatte Aladin gar nicht vor, mit seinem Halbbruder die Stadt zu verlassen, um seinen Vater ausfindig zu machen. Vielleicht hatte er beschlossen, den letzten Rest der Fastwirklichkeit, wie Edward sie genannt hatte, auch noch zu verschwenden und in eine andere Realität einzutauchen, weit jenseits seiner Vergangenheit, die so zertrümmert war wie seine Knochen. Ich hielt es für möglich, dass Aladin Toulouse, möglicherweise unter dem Einfluss der Medikamente, die er immer noch nahm – Genoveva hatte uns einen Berg Schachteln gezeigt –, und der Unmengen an Alkohol, die er täglich konsumierte , sein Verschwinden in Augenblicken wacher Verzweiflung geplant hatte und Genovevas Wohnung für ihn bloß eine Zwischenbleibe dargestellt hatte, eine letzte Station vor dem Aufbruch in die schwarze Zukunft. Und vielleicht eignete sich für diesen Aufbruch kein Tag besser als der letzte des Jahres, die Nacht der explodierenden Sterne.
So betrachtet, führten die Untersuchung des Naheliegenden und des Wahrscheinlichen zum selben Ergebnis.
»Glaubst du, er hat sich umgebracht?«, fragte Edward. Er erwartete keine Antwort.
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