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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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nicht. So wie ich wusste, welche Formulare ich auszufüllen und welche Fernschreiben ich zu verschicken hatte, so wusste ich, dass das Ziel einer Suche nicht ausschließlich die Auffindung der vermissten Person war. Für mich, das hatte ich im Laufe meiner Jahre im Dezernat 11 erkannt, bestand die Suche aus einer Fülle von Abschweifungen, denen ich, wenn ich mich traute, nur zu folgen brauchte, da sie meiner Überzeugung nach nicht das Geringste mit Zufall zu tun hatten. Diese Einschätzung, mit der ich jede Vermissung betrachtete, unabhängig davon, ob es sich um einen Erwachsenen oder ein Kind handelte, war der Grund, warum mein Vorgesetzter Volker Thon sogar vor versammelter Mannschaft wiederholt an meinem gesunden Menschenverstand zweifelte.
    »Hauen wir ab«, hatte Martin gesagt, aber ich war noch nicht mit dem Zuhören fertig gewesen. Ich hatte mich zu ihm und Edward Loos an den Tisch gesetzt, vor dem der Architekt vorhin umgefallen war, und in meinem Rücken das Klirren der Gläser gehört, die Obi mit grimmiger Miene begonnen hatte abzuspülen.
    »Das ist«, sagte Edward, holte tief Luft und klammerte sich mit einer Hand an der Tischkante fest, als fürchte er, vom Stuhl zu kippen. »Das ist… weil… weil… Unserer Familie ist die… die Wirklichkeit abhanden gekommen. Die ist weg. Unsere Mutter, du kennst die nicht…«
    »Doch«, sagte ich.
    »Die kennst du nicht!«
    »Doch«, sagte ich.
    »Die kennst du nicht!«
    »Doch.«
    »Die war Schauspielerin«, sagte Edward Loos. »Fast… fast Schauspielerin, sie war eine Fastschauspielerin. Sie hat gespielt. Und synchronisiert. Andre nachgesprochen. Filmisch. Unsere Mutter… Ich weiß das, ich war da schon auf der Welt, und mein Vater, wir waren alle auf der Welt, aber nicht in der Wirklichkeit, nur fast. In einer Fastwirklichkeit haben wir gewohnt, unsere Mutter, mein Vater und ich auch. Meinen Vater, den kennst du nicht.«
    »Er hat für dich ein Lied geschrieben«, sagte ich.
    »Das weiß ich doch!«, rief Edward.
    »Reißdichzusammenverstanden?«, blaffte Obi.
    »Ein Lied geschrieben! Einen Song. Der war echt, der war wirklich, den kannst du hören. Den Song, der geht so…«
    Er fuchtelte mit den Händen, brach das unsichtbare Spiel gleich wieder ab. »Groove. So hieß der. Marvin Groove. Wie der Groove.«
    »Groome«, sagte ich. »Dein Vater heißt Groome.«
    »Echt?« Edward griff nach dem Glas, verfehlte es und wunderte sich kurzfristig. »Bring mir noch eins!«, rief er in Richtung Tresen.
    Ich sagte: »Wieso war deine Familie nicht wirklich?«
    »Wieso?«, rief er. »Das siehst du doch! Unsere Mutter ist heut Souffleuse! Ist das eine wirkliche Arbeit? Ich meine, die Arbeit einer Schauspielerin? Da unten im Dunkeln? Eine Schauspielerin, die niemand sieht! In ihrem Kasten nicht und… und in ihrem Synchronstudio siehst du sie auch nicht. Niemand sieht sie. Sie ist aber Schauspielerin! Das ist doch irreal.«
    »Schreihiernichtsorum!«, sagte Obi, stellte das frische Bier auf den Deckel und wollte das andere Glas mitnehmen.
    »Moment!«, rief Edward und hielt es fest. »Da ist noch was drin.«
    »Dannsaufsausundschickdich!«
    »Was?« Edward trank aus, und Obi ging mit dem Glas zum Tresen zurück, wo er sich erst einmal eine Zigarette anzündete und das Feuerzeug von sich warf, als wäre es aus Feuer.
    Eine Weile betrachtete Edward das volle Glas, in dem der Schaum in sich zusammenfiel. »Gloome. Recht hast du. Gloome. Wo ist der? Unwirklich. Weg. Ontariosee. Ich weiß Bescheid. Prost!« Er trank, holte wieder tief Luft und hatte Mühe, die Lider zu heben. »Dann ist Aladin gekommen, der Fußballgott. Er wollt kein Gott sein, er wollt halt Fußball spielen. Kicken wollt der. Vielleicht Libero, wie der Beckenbauer früher, Flanken geben, das Spiel lenken, die Abwehr organisieren, den Sturm nach vorn treiben. Er wollt spielen wie ein Kind, er hatte Spaß dran, das wars. Spaß, das wars. Dann sollt er ein Gott werden, du wirst ein Gott, hat der Trainer zu ihm gesagt, in der F-Jugend, wenn du so weiter trainierst, wirst du ein Gott, hat der Trainer gesagt. Aladin hats mir erzählt, erst mir, dann unserer Mutter. Gott werden, willst du Gott werden, sag ehrlich? Oder du?«
    »Ich nicht«, sagte Martin.
    »Und du?«, fragte Edward mich.
    »Nein«, sagte ich.
    »Er auch nicht«, sagte Edward. »Aber er hat weiter trainiert…« Er verstummte, schnaufte, klopfte sich auf die Schenkel. »Dann war der Spaß aus. Hat er nicht gemerkt. Später erst. Beim FC Bayern,

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