Süden und der Luftgitarrist
Martin noch ich rechneten damit, Aladin zu begegnen, diese Art Zufälle gab es in unserem Beruf nicht. Nach allem, was Edward Loos uns erzählt hatte, glaubten wir nicht an einen glücklichen Ausgang der Suche. Worin denn hätte dieser Glaube bestehen sollen? An der Beschwörung der Ausnahme? Ich war seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei, davon die letzten zwölf in der Vermisstenstelle und davor vier in der Mordkommission und in anderen Abteilungen wie der Todes und der Brandfahndung. Hätte ich keine Bürophobie gehabt, die noch dazu von Jahr zu Jahr schlimmer wurde, sondern meine Arbeit wie die meisten meiner Kollegen erledigt, wäre ich nie auf die wahnwitzige Idee einer nächtlichen Fahndung im Auto verfallen. Ich hätte abgewartet, auf rasche Ergebnisse aus dem INPOL-System gehofft, auf Übereinstimmungen mit der VERMI/UTOT-Datei des BKA, auf die Arbeit des Landeskriminalamtes vertraut, ordnungsgemäß die KP-16- Meldungen mit markanten Informationen über den Verschwundenen ausgefüllt, notfalls ärztliche oder zahnärztliche Befunde besorgt und daktyloskopische Spuren gesichert, und falls entsprechende Hinweise vorgelegen hätten, hätte ich die zentrale Suchstelle des BKA, »Sirene«, eingeschaltet, von der aus die Fahndung gemäß dem Schengener Informationssystem ins Ausland ausgeweitet wurde. Ich wusste, dass bestimmte Länder dieselbe Arbeit unterschiedlich einstuften, so galt in Italien eine Person bereits dann als vermisst, wenn diese sich aus ihrer Wohnung entfernte und nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zurückkehrte, während in Griechenland eine Vermissung im Aufgabengesetz überhaupt nicht definiert wurde und sich die dortigen Kollegen bei der Fahndung nach einer Empfehlung des Europäischen Ministerrates richteten, wobei hinzukam, dass in Griechenland die Volljährigkeit mit siebzehn Jahren begann. Jede Vermissung bestand anfangs aus reiner Routine, und in den meisten Fällen endete sie in Routine. Ich schickte einen Vermisstenwiderruf ans LKA, in den ich den Zeitpunkt und Ort der Erledigung sowie deren Umstände eintrug: Die Rückkehr des Gesuchten, die Ermittlung seines Aufenthaltsortes und möglicherweise der damit verbundene Wegfall des Vermisstengrundes, oder eine Totauffindung mit Angaben darüber, ob es sich um einen Unfall, einen Suizid, einen natürlichen Tod oder ein Verbrechen handelte. Sogar bei einem Super-GAU, wie Dezernatsleiter Karl Funkel das Verschwinden eines Kindes nannte, nahmen wir die Ermittlungen nach einem immer gleichen Muster auf: Wir stellten das Elternhaus auf den Kopf, durchsuchten Keller und Speicherräume, Gartenhäuschen und andere zum familiären Umfeld gehörende Orte, die sich als Versteck eignen könnten, wir überprüften die Plätze, an denen sich das Kind am liebsten aufhielt, und beschäftigten uns mit den Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aus dem engeren und weiteren Bekanntenkreis, setzten Hubschrauber und Hundestaffeln ein, überwachten Spiel und Fußballplätze, U- und S-Bahnen, Parks und Friedhöfe. Unser Programm war ausgetüftelt und kriminaltechnisch auf dem neuesten Stand, und auch wenn viele Dienststellen und Dezernate einen Mangel an Personal beklagten, funktionierte die Zusammenarbeit im entscheidenden Moment fast immer problemlos. Ich war Teil eines bürokratischen Präzisionsapparates, ich hatte meine Aufgabe wie jeder andere, ich hatte begriffen, dass Kriminalistik die Summe aus Logik und Fachwissen darstellte und meine Arbeit letztlich darauf basierte, dem gesunden Menschenverstand zu vertrauen. Entscheidende Erfolge bei einer Suche oder einer Vernehmung resultierten selten – vielleicht nie – nur aus dem gezielten Einsatz technischer Hilfsmittel oder der Umsetzung neu entwickelter Gesprächstaktiken. Sie kamen zustande, weil es uns gelang, das Zuhören auf die Spitze und den Verdächtigten oder Zeugen mit nichts als undurchdringlichem Schweigen in die Enge zu treiben. Natürlich halfen mir gelegentlich gewisse Tauchsiederqualitäten, mit denen ich es schaffte, Leute derart aufzuheizen, dass sie explodierten und aus lauter Wut die Wahrheit preisgaben. Aber ich zog die stille Variante vor, sie entsprach meinem Wesen am meisten.
Und vermutlich geriet ich deshalb mein gesamtes Berufsleben lang in Situationen wie der »Bei Gretl«, wo ich mir zwei Stunden lang die Geschichte eines schwer angetrunkenen Mannes anhörte, die scheinbar nichts zur Aufklärung unseres Falles beitrug. Aber das kümmerte mich
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