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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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jetzt bin ich gespannt, wie wichtig euch das Leben von Ronnys Tochter ist. Ihr könnt mich foltern, ich sag euch nicht, wo sie ist. Ausreise ich, oder: Tod der Tochter …«
    In seiner Wohnung fanden wir keinen Hinweis auf das Versteck, und in einer Schachtel bewahrte er Fotos von Lucia auf, die uns zunächst nicht weiterbrachten .
    Manche Vernehmungen kamen mir vor wie ein Strudel, der uns in die Tiefe riss, während wir redeten, und ich wusste, wir landeten in einem schwarzen Nichts .
    Ich sagte: »Sie haben Lucia in einer Kiste versteckt.«
    »Richtig.«
    »Und diese Kiste haben Sie im Erdboden vergraben.«
    »Richtig.«
    »Gibt es eine Luftzufuhr zu dieser Kiste.«
    »Freilich.«
    »Wie ist diese Luftzufuhr konstruiert?«
    »Schlauch, Rohr, Klappe, Luft.«
    »Was für eine Klappe.«
    »Dass kein Dreck reinrieselt und kein Fuchs reinbieselt.«
    Einmal fragte Volker Thon: »Ist Ihnen das egal, ob Sie wegen räuberischer Erpressung oder wegen Mordes angeklagt und verurteilt werden?«
    Und Talhoff sagte: »Ausreisen lassen, fertig. Ich versorg Lucia, hab ich früher schon getan, klappt, geht gut, kann ich. Wenns ich nicht mach, machts niemand, und dann: aus. Muss doch nicht sein, oder?«
    »Sie hassen Lucia«, sagte ich.
    »Was ist Hass? Hass hat jeder, jeden Tag, du stehst auf, und der Hass steht mit dir auf. Ich hass doch die junge Dame nicht! Ich will raus aus dem Leben, darum gehts! Sag mal! Ich will diese Firma nicht mehr, das hält doch kein Mensch aus, du bewachst Häuser oder Leute, die sich wichtig nehmen wie Häuser. Du riskierst deine Gesundheit für die, du stellst dich vorn hin. Schreiben war auch nicht besser. Sitzt du am Schreibtisch und schreibst. Für einen anderen! Der geht ins Fernsehen, sagt deine Sätze, super! Hinterher bescheißt er dich mit dem Geld, das ist auch schon wurscht. Man muss aus dem Leben raus, darum gehts. Eine Million Euro, jetzt mal ehrlich: Die kriegt der für einmal Werbung in dreißig Sekunden. Sitzt aufm Klo, reißt ein Papier runter, eine Million Euro im Sack! Ich sag: Keine Polizei! Was macht er? Polizei ohne Ende. Süden, hast mich erwischt. Jetzt hast mich, und was nützts? Jetzt willst dir was ausdenken, aber ich sag dir: Denk nicht, tu, was ich dir sag, dann klappts …«
    Meine Kollegen machten rund einhundertfünfzig Personen, die Talhoff in irgendeiner Weise nahe standen, ausfindig und befragten sie. Vergebens. Talhoff verspottete uns und die Familie Simon, die Medien und die gesamte Öffentlichkeit.
    Ich konnte nicht länger jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen und von meiner Wohnung in der Deisenhofener Straße im Stadtteil Giesing quer durch die Stadt – den Nockherberg hinunter, am Sendlinger Tor vorbei und die Sonnenstraße entlang – bis zum Dezernat in der Bayerstraße zurücklegen, um am Ende des Tages dieselbe Strecke in entgegengesetzter Richtung zu gehen, mutlos, verbittert, lächerlich gemacht und verloren für jedes Wort, jeden Gedanken, jedes Empfinden außerhalb des Vernehmungszimmers mit seinem niedrigen Fenster, dem sirrenden Neonlicht und der grunzenden Stimme eines menschlichen Schweins.
     
    »Für viele im Dorf ist er ein Schwein«, sagte Anatol Ferenz. »Sie würden ihn schlachten, im übertragenen Sinn.«
    »Vielleicht nicht nur im übertragenen Sinn«, sagte ich .
    »Mit dem, was er getan hat, hat er das ganze Dorf beschmutzt, hat es mit einem Kainsmal belegt, auf Jahre hinaus.«
    Ich sagte: »Die alte Frau vom Friedhof hält eher mich für das Schwein.«
    »Sie haben ihr Weltbild und ihr Menschenbild erschüttert, wenn nicht zerstört.«
    »Ja«, sagte ich .
    Wir schwiegen .
    »Rechnen Sie damit, dass sich so eine Tragödie wiederholt?« Ferenz griff nach dem Weinglas, das in der vergangenen Stunde nur unmerklich leerer geworden war .
    »An einem anderen Ort? Dass wieder niemand etwas sieht? Dass ein Kind am helllichten Tag aus einer Gemeinschaft verschwindet? Wie oft waren Sie schon in so einer Situation?«
    »Noch nie«, sagte ich. »Bisher hatten wir immer Glück. Im Gegensatz zu Kollegen in anderen Dezernaten.«
    »Sie haben die verschwundenen Kinder jedes Mal wiedergefunden?«
    »Ja«, sagte ich. »Einige lebten nicht mehr, nicht, weil sie ermordet worden wären, sondern weil sie Selbstmord begangen hatten.«
    »Das ändert für die Eltern wenig.«
    »Das ist wahr«, sagte ich. »Nur für uns ändert es viel.«
    »Ich möcht nicht mit Ihnen tauschen«, sagte Ferenz. Er hob das bauchige Glas zum Mund, trank aber nicht. Über den Rand

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