Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
bücken musste, schrie er manchmal auf, sogar in der Kirche, die Leute sind zusammengezuckt. Ja, und weil er ewig keinen Ton von sich gibt, nur da kniet und mich anfleht mit den Augen, sag ich: Sprich mit mir! Und er öffnet den Mund, aber es kommt nichts. Als wär er stumm geworden, als wär sein Sprechnerv eingeklemmt, falls es den gibt. Und ich sag noch mal: Sprich doch, was hast du denn? Und dann rinnen ihm Tränen runter, und das war mir ein wenig peinlich, ich weiß nicht, warum. Es tat mir auch gleich Leid, dass ich gedacht hab, er soll aufstehen und nicht so weinerlich sein. Hinterher hab ich mich für meine Gedanken geschämt, ja. Ich hätt ihn fast angerufen später, um mich zu entschuldigen.«
    Die Hände hinter sich an die Sessellehne geklammert, starrte sie den Teppich an, noch immer entsetzt und zugleich berührt von dem seltsamen Auftritt des Pfarrers .
    »Und dann, ja …« Sie schaffte es nicht weiterzusprechen, ihre Finger krallten sich in den Stoff der Lehne, und sie kniff die Augen zusammen. Dann gab sie sich einen Ruck, war mit zwei Schritten bei der Couch, setzte sich und schlang die Arme um die Beine. »Er kam nicht mehr hoch«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Und das hat gedauert, bis ich das kapiert hab. Ja, er hat den Arm ausgestreckt, so …« Sie streckte den linken Arm vor, Handfläche nach oben, als bettele sie um eine milde Gabe. »Und ich steh da, wie Sie jetzt, und dann hör ich ihn was murmeln, und ich seh seinen Blick, und dann hab ichs kapiert. Ich helf ihm auf, und wir umarmen uns . Ja.« Nach einem kurzen Schweigen sagte sie: »Umarmt haben wir uns oft, immer, wenn wir uns gesehen haben, auch in Gegenwart von Frau Bergrain, das hat sie nicht gestört.«
    »Sie wusste von Ihnen beiden«, sagte ich .
    »Sie ist die Verschwiegenheit in Person. Und was gabs schon groß zu wissen? Ja, das, was Sie in der Hand halten, hätts zu wissen gegeben, das ja.«
    Ich hatte neun handbeschriebene Blätter in der Hand .
    »Heut Nacht hab ich kapiert, dass er vor zwei Wochen hierher gekommen ist, um ein Geständnis abzulegen, und dann hat er es nicht geschafft. Und ich hab nichts gemerkt. Das ganze Jahr schon. Ein Jahr lang hab ich einen Mörder umarmt, einen verfluchten verlogenen Kinderumbringer. Und er hat gepredigt in der Kirche, und ich hab ihn angeschaut, und die alten Weiber haben ihn angeschaut und angehimmelt und haben ihm die Zunge entgegengestreckt bei der Kommunion, und dann haben wir zusammen gegessen und uns wieder umarmt, und ich hab immer wieder zu ihm gesagt, er soll endlich zu mir stehen, und er hat gesagt, das kann er nicht. Und dann, ja, zwei Tage nachdem er hier auf dem Teppich gekniet hat, hab ich zu ihm gesagt, es ist Schluss, ich kann nicht mehr. Kann nicht mehr.«
    Ihr Kopf zuckte, wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Der Brief ist mit der Post gekommen, Herr Süden, seit einer Woche liegt er hier, und ich hab es nicht geschafft zur Polizei zu gehen. Heut wollt ichs tun. Am Tag nach der Beerdigung. Und gestern Vormittag … wissen Sie, was ich da getan hab? Ja?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Bitte kommen Sie!«, sagte Lieselotte Feininger. »Setzen Sie sich bitte zu mir, hier in den Sessel!«
    Ich ging hin und setzte mich .
    »Danke«, sagte sie. Ich beugte mich vor.
    »Ich hab mich auf diesen Teppich gekniet, so wie er das getan hat, und hab den Brief in den Händen gehalten, so wie Sie jetzt, und hab gebetet und gebetet, drei Stunden lang, Vater unser, der Du bist im Himmel, und hab Ihn angefleht, den Gott im Himmel, und hab Ihm den Brief entgegengestreckt und hab Ihn angeschrien, warum Er so was zulässt, warum Er so was tut, warum die kleine Anna hat sterben müssen? Warum denn? Weil sie ihn erwischt hat! Weil sie durchs Fenster geschaut hat zur falschen Zeit, das kleine Mädchen mit dem lustigen Haarschnitt .
    Die hat doch nichts getan! Sie hat so gern Stachelbeeren genascht, jedes Jahr ist sie in den Pfarrgarten gekommen und hat die Beeren vom Strauch gezupft, ja. Und da wieder. Wieder, ja. Hat sie gemacht und durchs Fenster gespitzt. Und da hat sie ihn erwischt. Steht alles in seinem Brief, in seinem Geständnis, er hat das Mädchen ja nicht bemerkt, wie denn? Er hat auf dem Boden gekniet, auf einem Handtuch, auf dem grünen Handtuch, das ich ihm geschenkt hab zu Weihnachten mal, und hat das getan, was verboten ist. Noch dazu, wenn man schon so alt ist. Verboten.«
    Tränen überschwemmten ihre Wangen .
    »Der alte Mann, und ein Pfarrer dazu! Kniet mit

Weitere Kostenlose Bücher