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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wär jetzt schon in der ersten Klasse des Gymnasiums.«
    Nach einem Schweigen stand ich auf. »Ich komme um halb acht bei Ihnen vorbei und hole die Akte. Dann lese ich sie und gebe sie Ihnen wieder.«
    »Danke!« Er stand ebenfalls auf und streckte mir die Hand hin. »Was für ein glücklicher Zufall, Sie hier zu treffen, nachdem ich mich am Friedhof nicht getraut hab, Sie anzusprechen. Wir wohnen Finkenweg zwölf, das ist …«
    »Ich weiß, wo das ist«, sagte ich.
    »Selbstverständlich wissen Sie das, Sie sind ja hier aufgewachsen! Entschuldigen Sie.«
    Den Finkenweg kannte ich nicht nur, weil ich in Taging aufgewachsen war. Am Finkenweg 5 hatte Bibiana gewohnt, ihr Zimmer hatte ein rundes Fenster, und wenn wir verabredet waren, winkte sie mir von dort oben zu. In den Jahren zwischen dem Tod meiner Mutter und dem Verschwinden meines Vaters geleitete mich dieses Winken jedes Mal aus der Arktis meiner Gedanken in eine Gegend aus purem Sommer.

2
    I n der Nacht lag ich wach und nackt auf dem Bett und dachte darüber nach, wieso ich überhaupt nach Taging gefahren war und noch dazu ein Zimmer gemietet hatte. Am sechzigsten Geburtstag meiner Mutter hatte ich in der katholischen Kirche des Münchner Stadtteils, in dem ich wohnte, in Heilig Kreuz auf dem Giesinger Berg, eine Kerze für sie angezündet und mich zu einem vagen Gebet in eine Bank gekniet. Was mir damals durch den Kopf gegangen war, unterschied sich unwesentlich von dem, was ich heute im »Hotel Koglhof« dachte. Ich wunderte mich über die unscharfen Bilder, die ich sah, meine Mutter in einem weißen, luftigen Kleid, als ich vielleicht sieben Jahre alt war, meine Mutter auf dem Krankenlager aus Stroh, irgendwo in der Nähe von Oklahoma City, wohin mein Vater sie zu einem Schamanen gebracht hatte, ohne dass ich mir bis heute erklären kann, wo er diesen Medizinmann kennen gelernt hatte .
    Er hat nie ein Wort darüber verloren, und als meine Mutter starb, fragte ich nicht mehr danach. Schemenhaft tauchten die beiden in meiner Erinnerung auf, wie Fremde, denen ich irgendwann zufällig begegnet war, meine Mutter mit ihrem hageren, Schmerz spiegelnden Gesicht, mein Vater mit seinen klobigen, ständig durch die Luft irrenden Händen. So sehr ich mich bemühte, sie kamen mir nicht näher, so bedeutend der Anlass sein mochte, an dem ich versuchte zurückzukehren – Geburtstage, Todestage, sogar der Tag, an dem mein Vater verschwand –, nie gelang mir eine wahrhaftige innere Begegnung, immer war es mehr die Inszenierung einer Begegnung, deren Beschwörung oder ein trotziger Wille. Hinterher lief ich meist ziellos durch die Stadt, getrieben von in wütende Gleichgültigkeit umschlagenden Unmut. Und dazu der alte lächerliche Spottspruch, »vom Einzelkind zum Einzelerwachsenen«, und ein hämisches Grinsen und der kindische Neid im Angesicht von Paaren, die mit ihren Kindern turtelten. In diesen Momenten holte mich der mit Hass und Entsetzen voll gepumpte Jugendliche ein, der im Krankenhaus das winzige Gesicht seiner toten Mutter anschauen musste und drei Jahre später in der Küche den leeren Stuhl mit der Lederjacke seines Vaters über der Lehne – armselige Beweise für die Existenz zweier Menschen, die, ohne mir Bescheid zu sagen, das Universum verlassen hatten.
    Nicht einmal an Blumen hatte ich gedacht. Und jetzt lag ich bei offenem Fenster in einem nach Putzmittel riechenden Zimmer und schaffte es nicht aufzustehen, Geld auf den Tisch zu legen, zum Bahnhof zu gehen, der gegenüber dem Hotel lag, und mit dem ersten Zug das Dorf zu verlassen.
    Ich hatte ein Versprechen gegeben .
    Aber ich hatte nicht einmal an Blumen gedacht. Nicht einmal vor meinem zweiten Besuch am Abend. Jemand anderes hatte die Rosen in die Vase gestellt, ein Angestellter der Gärtnerei hat das Grab geschmückt und vermutlich die Kerze angezündet. Auch keine Kerze hatte ich mitgebracht. Ich hatte an den Geburtstag gedacht, mehr nicht, und mir eingeredet, es sei wichtig, das Grab zu besuchen. Was wollte ich damit beweisen? Falsche Frage. Was wollte ich mir damit beweisen? Dass ich da war? Hast du mich gesehen, Mama? Ich dich auch nicht.
    Ich holte eine Bierflasche aus der Minibar und trank am offenen Fenster. Der Himmel war voller zirpender Sterne .
    Und ich wusste, ich wollte nie wieder in dieses Dorf zurückkehren. Und ich wusste noch nicht, wie erleichtert dieses Dorf darüber sein würde.
     
    Umringt von vier Kindern, die sich alle Mühe gaben, meine Bewegungen nachzuahmen, verbrachte

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