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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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kennen Sie ihn.«
    Wir standen uns gegenüber, zwei Weißhemden, die etwas wussten.
    »Kommen Sie rein, verdammt!«, sagte sie, drehte sich um und ging voraus.
    Ich schloss die Tür hinter mir. In einem Zimmer voller Grünpflanzen, in dessen Mitte eine rechts und links von einem Kästchen aus Acrylglas flankierte Couch stand, spielte leise Klaviermusik, und es roch nach einem Öl, dessen Duft ich nicht identifizieren konnte.
    »Was trinken?«
    Sie goss Campari in ein Glas und Wasser aus einem Apparat, mit dem man sein Mineralwasser selbst herstellte.
    »Nein«, sagte ich.
    Sie trank und sah mich an. Dann stellte sie das Glas ab, zögerte einen Moment, kam auf mich zu, sah mir in die Augen, machte eine Kopfbewegung in Richtung Flur, ging hinaus und öffnete eine Tür.
    Ich folgte ihr. Und warf einen Blick an ihr vorbei ins Zimmer.
    Auf einem Bett schlief Jeremias Holzapfel in seiner Straßenkleidung.
    Dann begriff ich, dass nicht Holzapfel, sondern nur seine Kleidung dalag: das blassblaue Blouson, die Cordhose, sein hellbraunes ausgewaschenes Hemd. Und auf dem weißen Kopfkissen blinkte etwas: Holzapfels kleiner goldener Ohrring. Vor dem Bett standen seine abgetretenen Wildlederschuhe.
    Esther Kolb drängte mich zur Seite und schloss die Tür.
    »Okay?«, sagte sie und ging zurück ins Wohnzimmer.
    »Haben Sie Bier?«, fragte ich.
    »Im Kühlschrank«, sagte sie.
    Ich suchte die Küche, nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank und hielt nach einem Öffner Ausschau. In einer Schublade fand ich einen. In der Küche deutete nichts darauf hin, dass hier gekocht oder gegessen wurde. Der Kühlschrank enthielt nichts außer mehreren Flaschen Bier und Weißwein, zwei Gläsern mit eingelegtem Gemüse, einer Butterschale und einer blauen Tupperdose.
    »Danke«, sagte ich, als ich ins Wohnzimmer kam.
    Esther hatte sich auf die Couch gesetzt, die Beine übereinander geschlagen und das Glas auf ihrem Knie abgestützt.
    »Und nun?«, fragte sie.
    Ich sagte: »Nun bin ich neugierig auf Ihre Geschichte.«
    »Wieso interessiert Sie die?«
    »Ich bin Spezialist für merkwürdige Geschichten«, sagte ich.
    »Dann erzählen Sie mir Ihre zuerst!«, sagte sie.
    »Ich dachte, Sie sind auf dem Sprung.«
    »Bin ich. Aber ich ’bin die Chefin.«
    »Was machen Sie?«
    »Ich hab ein Billardcafé im Westend. Spielen Sie Billard?«
    »Manchmal.«
    Ich setzte mich in einen bequemen Stoffsessel mit breiten Lehnen, trank einen Schluck und stellte die Flasche neben den Stuhl. Dann schaute ich Esther an. Offenbar hatte sie mich beobachtet.
    »Meine Geschichte kann ich in einem Satz zusammenfassen«, sagte ich.
    Sie hob ihr Glas an den Mund ohne zu trinken. Über den Rand hinweg sah sie zu mir her.
    Ich sagte: »Ich arbeite auf der Vermisstenstelle der Kripo und kann meinen eigenen Vater nicht finden.«
    Es war der Anblick der Kleidungsstücke gewesen, in denen ein Körper fehlte, der mich dazu gebracht hatte, diesen Satz auszusprechen, der normalerweise nur in meinem Kopf existierte. Nicht einmal zu Martin hatte ich je so etwas gesagt, obgleich er meine Biografie so gut kannte wie ich selbst.
    Noch vor einer halben Minute war ich entschlossen gewesen, irgendeine Episode aus meinem Arbeitsleben zu erzählen. Und jetzt saß ich in der Wohnung einer fremden Frau, auf deren Bett ein Mann gelegen hatte, der mich nichts anging. Und ich hatte mich allen Ernstes aus keinem anderen Grund als Neugier auf einen Handel mit Lebensgeschichten eingelassen.
    Entweder waren wir beide lächerliche Gestalten oder wir mussten hinterher Holzapfels Sachen woanders hinräumen.
    »An einem Sonntag…«, sagte ich. Und stand auf. Und indem ich aufstand, an Esther vorbeiging und mich hinter sie stellte, trat ich in die Geschichte eines anderen ein. Ich wollte jetzt nicht der sein, der ich damals in Wirklichkeit war, mit sechzehn, an jenem Sonntag…
    Sie drehte den Kopf, aber ich sagte: »Zuhören können Sie auch so. Es dauert nicht lang.«
    Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf ein wenig schief.
    »An einem Sonntag forderte mein Vater mich auf mich hinzusetzen. In der Küche. Ich setzte mich. Er fing an zu sprechen. Und bevor ich begriff, worum es ging, war er schon fertig. Wahrscheinlich war ich vom ersten Wort an so geschockt über das, was er sagte, dass es sofort dunkel wurde in meinem Kopf und die Sätze an meinen Ohren abprallten wie an geschlossenen Türen. Ich sah ihn an, ich kann noch heute sein Gesicht sehen, ein Gesicht mit wässrigen Augen, und der Mund ging

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