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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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mir!«
    Ich ging zu ihm. »Kannten Sie ihn näher?«
    »Überhaupt nicht«, sagte der Pförtner. »Schade, dass er nicht mehr für uns arbeitet. Seine Stimme fehlt im Programm.«
    Es störte mich nicht, dass wir im Dunkeln saßen. Vom Flur fiel Licht herein, und das genügte, um das kleine Wohnzimmer so weit zu erhellen, dass wir uns gut sehen konnten, Paul Weber und ich.
    Nach dem Besuch im Rundfunkhaus war ich zwei Stunden durch die Stadt gelaufen, nicht ohne mich immer wieder umzudrehen. Was ich auf die Dauer lächerlich fand. Wo immer sich Holzapfel aufhalten mochte, an meine Fersen hatte er sich garantiert nicht mehr geheftet. Zu Fuß ging ich zurück in meine Wohnung, zog mich aus, legte mich nackt aufs Bett und fiel in einen leichten Schlaf. Als es dunkel war, rief ich Weber an, der gerade aus dem Krankenhaus zurückgekehrt war. »Wir müssen nichts sprechen«, sagte ich am Telefon zu ihm, und er:
    »Das weiß ich.«
    Beim Betreten seiner Wohnung sah ich, dass im Wohnzimmer kein Licht brannte. Natürlich wollte er es wegen mir anmachen, aber ich bat ihn es aus zu lassen.
    Wir saßen nebeneinander auf der Couch. Er hatte immer noch seine Jacke und die Straßenschuhe an.
    Minutenlang sagten wir kein Wort. Eine antike Uhr tickte in der Ecke.
    Paul Weber war eine kuriose Erscheinung. Mit seinen lockigen Haaren, seiner kräftigen Figur, seinen speckigen Kniebundhosen und den karierten Hemden, die seine bevorzugte Kleidung waren, sah er aus wie der klassische Postkartenbayer. Zudem benutzte er weißblaue Stofftaschentücher, groß wie ein halbes Tischtuch, und trug im Winter einen Lodenmantel. Trotzdem sprach er fast dialektfrei, was ungewöhnlich war, da er am Chiemsee aufgewachsen war, wo die Leute breites Oberbayerisch reden. Kurios waren auch seine Ohren. Sie waren meist tomatenrot. Nur die Ohren, nicht das ganze Gesicht.
    Als ich vor zwölf Jahren als Oberkommissar auf die Vermisstenstelle kam, arbeitete er bereits dort. Anfangs dachte ich, er würde der neue Chef werden, da er mindestens zehn Jahre älter war als die meisten Kollegen, die meiste Erfahrung besaß und als absolut integere Person galt. Doch dann begriff ich, dass ihn die Stelle nicht interessierte. Er hatte ein Leben außerhalb des Büros, und darin unterschied er sich von meisten jüngeren Kommissaren. Wir freundeten uns an, fragten uns in all den Jahren aber nie aus. Wenn das Gespräch auf unsere Vergangenheiten kam, zögerten wir auf eine ähnliche Art uns mitzuteilen. Nur einmal, in einer langen komplizierten Nacht, in der wir beide als Mitglieder einer Sonderkommission Stunde um Stunde auf einen Einsatz warteten, erzählte er mir, warum er Polizist geworden war.
    Daran musste ich jetzt wieder denken, als ich neben ihm auf der Couch saß. Denn Elfriede spielte in dieser kleinen Geschichte die Hauptrolle.
    »Sie ist stark«, sagte ich.
    »Der Tod ist stärker«, sagte er.
    Er zog sein riesiges Taschentuch aus der Hose und drückte es ausgebreitet auf sein Gesicht. Dann faltete er es zusammen und legte es auf den Holztisch, an dem wir saßen.
    »Weißt du, wie lang wir verheiratet sind?«, sagte er. Ich sah ihn an.
    »Siebenundzwanzig Jahre.« Er strich sich über den Mund.
    »Kann sein, dass sie nicht mehr nach Hause kommt«, sagte er übergangslos. »Der Arzt ist ehrlich. Er sagt, man kann was tun, aber eine Garantie gibt es nicht. Metastasen sind unberechenbar.«
    Er beugte sich vor und sah zu dem antiken Holzbüffet, auf dem eine gerahmte Fotografie des Ehepaars stand. Dann drehte er den Kopf zu mir.
    »Es geht sehr schnell alles abwärts.«
    Eine Weile glaubte ich ein Echo dieses Satzes in diesem Zimmer oder in meinem Kopf zu hören.
    »Manchmal«, sagte er und senkte den Blick, »bin ich so verzweifelt, dass ich aufhöre, Gott zu hassen.« Er wandte sich von mir ab. »Friede hält auch nicht viel davon, sie liest lieber Gedichte als Gebete.«
    Plötzlich erhob er sich. Sein Blick irrte durchs Zimmer, mehrere Male hin und her, seine dünne graue Jacke raschelte, und dieses Rascheln klang unheimlich in der Stille der Wohnung. Dann streckte er den Arm vor, als stütze er sich an einer unsichtbaren Wand ab, machte einen breiten Schritt von der Couch weg ins Zimmer hinein, verließ schwerfällig den Raum und war schon wieder zurück, bevor ich die Hände runternehmen konnte, die ich vors Gesicht geschlagen hatte.
    Er setzte sich wieder neben mich, auf eine ungewöhnliche Art. Er sackte nicht einfach nach unten, wie ich es wegen seines Gewichts

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