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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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auf und zu, und ich saß vor ihm, er sprach auf mich herunter, und wann immer ich seither an diese Szene denke, höre ich nichts. Es ist, als dächte ich an einen Stummfilm, als sähe ich Bilder, aber niemand spricht dazu, obwohl ich die Mundbewegungen ganz deutlich erkennen kann.«
    Wortlos schob ich meinen Unterkiefer hin und her. Mit geschlossenen Augen. Als würde ich mit Schweigen einen Monolog synchronisieren. Und dann musste ich an Jeremias Holzapfel denken. Auch er hatte seinen Mund eigenartig bewegt, wie jemand, der seine Gesichtsmuskeln nicht unter Kontrolle hat.
    Eilig fuhr ich mit der Geschichte jenes anderen fort, der ich jetzt nicht sein wollte: »Er küsste mich, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wie damals, als meine Mutter starb. Anschließend ging ich in mein Zimmer und blieb dort. Ich war wie gesagt sechzehn, aber im Gegensatz zu meinen Freunden hatte ich noch keine Freundin, Partys interessierten mich nicht besonders, und geredet habe ich auch nicht gern. Ich fand, dass fast alles, was ich sagte, entweder falsch oder blöde war. Am jenem Nachmittag kamen mein Onkel Wilhelm und seine Frau Elisabeth, Willi und Lisbeth, zu mir und erklärten mir, mein Vater sei weggegangen. Da fiel mir ein, was er in der Küche zu mir gesagt hatte, und ich lief hinüber, und die Küche war menschenleer. Nur eine Jacke hing über dem Stuhl, seine Lederjacke. Und auf dem Tisch lag ein Brief, ein Blatt Papier, auf dem stand: ›Lieber Tabor‹. Das war ich. Ich nahm den Brief aber nicht. Sondern ich zog die Lederjacke an, die mir viel zu groß war, sie roch nach dem Rasierwasser meines Vaters, sie war schwer, und ich fühlte mich sofort sicher in ihr. Wie beschützt. Ich drehte mich um, und da stand Willi und reichte mir eine Flasche Bier. Ich trank sie aus, steckte den Brief ein und verließ das Haus. Lisbeth und Willi wollten mich begleiten, aber ich rannte davon. In der Kneipe, in der sich die Jugendlichen des Dorfes trafen, trank ich ein zweites Bier und dann ging ich hinunter zum See, um den Brief zu lesen.«
    Erst jetzt machte ich die Augen wieder auf. Esther hatte sich umgedreht und sah mich an. Das war mir unangenehm.
    »Der Mann ist immer noch verschwunden«, sagte ich.
    »Angeblich wollte er nach Amerika. Bisher haben alle meine Nachforschungen nichts ergeben. Die Kollegen drüben waren sehr hilfsbereit.«
    »Sie werden ihn finden«, sagte Esther Kolb.
    Ich sagte: »Wir haben aufgehört ihn zu suchen.« Und fügte hinzu: »Er ist nicht als vermisst gemeldet.«
    »Wie Jerry.«
    Ich ging zu dem Stoffstuhl mit den breiten Lehnen und nahm die Bierflasche, die ich auf den Teppich gestellt hatte. Ich trank die Flasche in einem Zug aus.
    »Sie haben ihn verpasst«, sagte Esther. »Ich hatte ihn nicht erwartet, es klingelte, ich machte auf… Im Bahnhof war ich mir nicht sicher gewesen, ich hab ihn lange nicht mehr gesehen… Jerry…«
    »Waren Sie befreundet mit ihm?«
    »Das auch. Aber vor allem hatten wir ein Verhältnis.
    Wenn er zu mir kam, dann meistens nachts, mal mehr, mal weniger angetrunken. Und dann gingen wir gleich ins Bett, ohne bürgerliche Warteschleife…«
    »Wann war das?«, fragte ich. Bei passender Gelegenheit wollte ich mir noch ein Bier holen.
    »Kennen gelernt haben wir uns… ja, ist fast zehn Jahre her, ich hatte damals ein kleines Restaurant mit meinem Exmann, wir waren Partner. Bis ich merkte, dass wir total verschuldet waren… Ist vorbei. Jerry kam manchmal zum Essen zu uns, er flirtete die ganze Zeit mit mir. Und er hatte eine schöne Stimme. Irgendwann hab ich ihn dann im Radio gehört und das sagte ich ihm auch, er freute sich darüber. Er war auch da, als wir unseren letzten Abend gegeben haben, Rolf, mein Exmann, unsere Köche und ich. Und danach haben wir uns verabredet, Jerry und ich…«
    »Wo wohnte er damals?«
    »Im Westend, in dem Hochhaus überm Karstadt.«
    »Waren Sie mal da?«
    »Nein. Er wohnte doch mit seiner Frau dort. Er kam zu mir. War mir auch recht. Ich hab diese Wohnung hier gemietet, weil ich den Stadtteil mag, das Haus ist natürlich nicht so schön.«
    »Es sieht aus wie der Racheakt eines Architekten«, sagte ich.
    »So furchtbar ist es auch wieder nicht.«
    »Kann ich noch ein Bier haben?«
    »Bringen Sie mir auch eins mit!«
    Ich holte das Bier und wir stießen mit den Flaschen an.
    »Und heut Nacht taucht er plötzlich hier auf, es war drei ungefähr, ich hab schon geschlafen. Zuerst dachte ich, es ist Elsa, eine junge Frau, die bei mir arbeitet, die

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