Süden und der Straßenbahntrinker
vielleicht erwartet hätte, vielmehr war seine Bewegung ein Ausdruck größtmöglicher Behutsamkeit. Als nähere er sich einem kostbaren Untergrund, bei dem sich jede Ruppigkeit verbat. Und er setzte sich ganz an den Rand der Couch, seine Knie stießen gegen den Tisch, und sein Bauch wölbte sich mächtig.
In der Hand hielt er ein Taschenbuch. Er schlug es auf.
»Ihr Lieblingsgedicht«, sagte er.
Ich sah, dass es nur vier Zeilen lang war.
Weber holte Luft, dann las er: »Die laubigen Laubfrösche bitten laut / der Morgen stellt sich häufig taub und blind / mit Laub auf den Stimmen mit Zungen betaut / für alle die im Herzen barfuß sind.«
Aufgeschlagen legte er das Buch auf den Tisch, ebenso sacht, wie er sich hingesetzt hatte.
Wir schwiegen.
»Weißt du«, sagte er dann, an mich gewandt, »von wem ich das Gedicht gehört hab, außer wenn meine Frau es mir vorgelesen hat? Von Jeremias Holzapfel, im Radio. Vor vielen Jahren. In einer Gedichtesendung. Friede wollte die Sendung unbedingt hören, das weiß ich noch, sie hat ja in ihrer Bücherei eine eigene Lyrikabteilung eingerichtet. Das war schon beeindruckend, wie der Holzapfel gelesen hat. Und jetzt taucht der auf einmal mit seiner kuriosen Geschichte auf.«
»Die Kollegen fahnden nach ihm«, sagte ich. In kurzen Worten erzählte ich ihm, was am Bahnhof passiert war. Weber hörte mir zu und schüttelte den Kopf. Das war alles.
Wir saßen im Dunkeln und es war still.
Ich musste an den Satz des Pförtners denken: Seine Stimme fehlt im Programm.
Später holte Weber zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
5
A m Montag Früh zog Esther Kolb ihre Anzeige wegen Körperverletzung zurück. Gründe nannte sie keine, das Einzige, was sie sagte und ungefähr siebenmal wiederholte, war, der Mann sei wahrscheinlich betrunken gewesen, er habe sie sicher nicht absichtlich niedergeschlagen, und sie wolle keinem Unschuldigen Unannehmlichkeiten bereiten. Auch auf mehrmaliges Nachfragen hin bestritt sie, den Namen Jeremias Holzapfel schon einmal gehört zu haben oder gar den Mann zu kennen. Sie habe ihn nie zuvor gesehen. Woher sie das wissen wolle, fragten meine Kollegen von der Bahnpolizei, sie habe doch ausgesagt, der Überfall sei so überraschend für sie gewesen, dass sie nicht einmal eine brauchbare Beschreibung des Täters abgeben könne.
Von dieser Aussage rückte Esther Kolb auch nicht ab. Sie verließ das Büro erst, als der Kollege vor ihren Augen das von ihr unterschriebene Papier zerriss und die Angaben im Computer löschte. Für die Bahnpolizisten handelte es sich letztendlich um eine Bagatelle, sie wunderten sich zwar, waren aber wie immer froh, wenn sich angesichts des Wusts unaufgeklärter Alltagsfälle der eine oder andere von selbst erledigte.
Auf Grund unserer Begegnung am Hauptbahnhof informierten sie das Dezernat 11 über Frau Kolbs Entscheidung, und Sonja Feyerabend gab mir die Nachricht am Telefon weiter. Der zweite Grund ihres Anrufs war, dass sie wissen wollte, warum ich mich am Wochenende nicht wie versprochen bei ihr gemeldet hatte.
»Am Samstag«, sagte ich, »war ich den ganzen Tag unterwegs, abends habe ich Paul besucht und am Sonntag wollte ich allein sein.«
»Sie haben nicht vergessen anzurufen?«, fragte sie.
In der Vermisstenstelle waren wir die Einzigen, die sich siezten.
»Ich hab immer wieder dran gedacht.«
Sie sagte: »Es gibt eine Form von Ehrlichkeit, die ich nicht besonders gut ertrage.«
»Entschuldigen Sie!« Sie schwieg.
»Das Alleinsein ist sehr wichtig für mich«, sagte ich. »Ich habe kürzlich die Aussage eines Schriftstellers gelesen, der meinte, man solle Alleinsein als Fach in der Schule einführen. Guter Vorschlag.«
Während ich noch sprach, kicherte sie. Es hörte sich zumindest so an.
»Worüber lachen Sie?«, fragte ich.
»Weil Sie sagen: ›Die Aussage eines Schriftstellers‹. So redet nur ein Polizist. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass Sie das Feuilleton lesen.«
»Warum nicht?« Sie schwieg.
Ich sagte: »Das Interview stand im Lokalteil einer Boulevardzeitung.«
»Ich wollte schon bei Ihnen anrufen«, sagte sie. »Das möcht ich mir eigentlich ersparen, so was. Also wenn Sie das nächste Mal sagen, Sie rufen an, dann tun Sies auch, selbst wenn Sie absagen!«
»Entschuldigen Sie!«
»Tun Sies«, sagte sie, »dann können Sie sich Ihre Entschuldigungen sparen.«
Ich streckte die Beine aus. In dem einen der beiden Zimmer, die mit der Küche, dem Bad und dem engen Flur meine Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher