Süden und der Straßenbahntrinker
hat Probleme mit ihrem Kerl, der schlägt sie, und sie hat schon ein paarmal hier übernachtet. Aber es war Jerry. Und als ich ihn sah, wusste ich, dass er das war im Bahnhof.«
»Was für ein Zufall!«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie und klopfte mit dem Flaschenhals an ihr Kinn. »Es war Zufall, dass wir uns im Bahnhof über den Weg gelaufen sind. Aber ich glaube nicht, dass es Zufall war, dass er mir eine verpasst hat, der alte Jerry.«
»Haben Sie mit ihm gesprochen?«
»Gesprochen?« Sie tippte sich mit der Flasche an die Stirn. »Mit dem kann man nicht sprechen, keine Ahnung, was mit ihm los ist. Vielleicht ist er verrückt geworden. Alles, was er gesagt hat, war, er sei wieder da. Natürlich hab ich gedacht, er will vögeln, wie früher, was sonst? Aber das wollte er nicht. Und jetzt passen Sie auf: Er kam also rein, schaute sich um, ging ins Schlafzimmer, legte sich aufs Bett, wo ich gerade gelegen und fest geschlafen hatte, und eine Minute später fing er an zu schnarchen. Wie finden Sie das?«
»Konsequent.«
»Bitte?«
»Er war müde«, sagte ich. »Endlich hatte er ein Bett gefunden, in dem er sich wohl fühlte.«
»Interessanter Aspekt«, sagte Esther und trank. »Ich hab dann auf der Couch hier geschlafen. Heut Morgen hab ich einen Blick ins Schlafzimmer geworfen und er schlief immer noch. Ich hab mich angezogen und bin zum Bäcker gegangen, wo ich immer meinen Morgenkaffee trinke, und das hab ich auch heut früh getan. Dann hab ich zwei Brezen und Milch gekauft, weil ich dachte, vielleicht will er frühstücken. Als ich nach Hause kam, lagen die Sachen auf dem Bett, und Jerry war verschwunden. Er hat eine Hose von mir angezogen, einen Pullover, irgendwelche alten Turnschuhe und meinen Friesennerz mitgenommen.«
»Was?«
»Den hab ich mir für die Nordsee gekauft, ich fahr da oft hin, besonders im Spätherbst, da braucht man so eine Ölzeugjacke, die hilft gegen das Wetter dort.«
»Und diese Jacke ist gelb?«, fragte ich.
Sie sagte: »Gibts die auch in anderen Farben?«
»Das bedeutet«, sagte ich, »Jeremias Holzapfel ist in einer gelben Ölzeugjacke in der Stadt unterwegs? An einem sonnigen warmen Tag wie heute?«
»Ist bestimmt ein lustiger Anblick«, sagte Esther.
6
N äher kamen wir uns nicht. Wir verließen das Haus und stiegen in Esthers blauen Saab.
Holzapfels Sachen lagen nach wie vor auf dem Bett. Ich war noch einmal ins Schlafzimmer gegangen und hatte mich umgesehen. Wie die unheimliche Hülle eines unsichtbar gewordenen Menschen wirkten das Blouson, die Hose, das Hemd, und ich fragte mich, warum er sich umgezogen hatte. Und warum er dazu eine Frau aufgesucht hatte, mit der er vor zehn Jahren befreundet war und zu der er keinen Kontakt mehr hatte. Und wo hatte er sich den gestrigen Tag über aufgehalten? Und wo war er jetzt?
Und was war es, das mich zwang, in diesem Schlafzimmer zu stehen und ein ungemachtes Bett anzustarren? Ich hörte, wie Esther hinter mir mit dem Hausschlüssel klirrte, ich drehte den Kopf. Aber ich schaute sie nicht an. Ich schaute an ihr vorbei oder durch sie hindurch.
Und da begriff ich, warum ich hier war. Warum ich diesem Mann hinterherlief, obwohl ich scheinbar nichts mit ihm zu tun hatte, weder privat noch beruflich.
Vollkommen falsch.
Wegen ihm hatte ich vorhin die Geschichte vom Abschied meines Vaters erzählt. Wegen ihm war ich bereit gewesen, einen fremden Menschen in meine Welt zu lassen, ohne jede Absicht, ohne einen einzigen Gedanken an Vorsicht. Durch den Anblick der zerknitterten alten Kleidungsstücke auf dem weißen Bett wurde mir klar, wie wenig ich bisher über diesen verwirrten Schauspieler nachgedacht, wie wenig ernst ich seine Situation genommen, wie wenig ich von seinem Zustand begriffen hatte.
Was mich veranlasst hatte ihm zuzuhören, ihn zu verfolgen, Personen zu befragen, so zu tun, als würde ich tatsächlich an einem Fall recherchieren, obwohl ich wusste, dass es sich um keine typische Vermissung handelte – all das geschah nicht aus Interesse, nicht einmal aus Neugier, wie ich mir einredete. Vom ersten Moment an hatte ich in der Person des Jeremias Holzapfel den Mann gesehen, der zurückgekommen war. Mit seinem Auftauchen war etwas wirklich geworden, das bisher wie ein Schattengebilde in meiner Vorstellung existiert hatte, eine Bedrohung, ein Schmerz, eine Sehnsucht.
Dieser Mann, der behauptete vermisst worden zu sein, hatte die Wahrheit gesagt. Auch wenn es nicht seine Freunde oder seine Exfrau waren, die gewünscht
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