Süden und der Straßenbahntrinker
Mittelfinger die Schläfen zu massieren.
Ich stand auf, drehte mich zum offenen Fenster um und sog die kühle Luft ein. Es regnete in Strömen. Am westlichen Himmel versank das letzte Licht in schmutzigem Grau.
Ich setzte mich wieder. »Wo ist er hingezogen, nachdem Sie sich getrennt hatten?«
»Zu seiner Freundin Inge.«
»Inge Hrubesch.«
»Sie hat eine große Wohnung.«
»Und dort wohnt er immer noch?«, fragte ich.
»Ich glaube schon.«
»Und warum hat er sich unter einer falschen Adresse beim Meldeamt eintragen lassen?«
»Falsche Adresse!«, sagte Clarissa, als mache sie die Formulierung wütend. Sie goss sich nach, trank einen Schluck, trank noch einen Schluck und stellte das Glas mit einem Klacken auf den Tisch. »Was ist daran falsch? Er hats halt getan. Er ist halt lieber im Westend gemeldet.«
»Sie haben davon gewusst.«
»Ja!«, sagte sie laut. »Verhaften Sie mich jetzt?«
»Warum hat er das getan?« Ich beugte mich vor, strich mir die Haare aus dem Gesicht, nestelte am Gürtel meiner Hose, die mir zu eng war. Sie passte mir immer weniger, mein Bauch hatte keinen Platz mehr. Es war längst Zeit mir eine neue Hose zu kaufen, aber ich weigerte mich. Und ein Loch am Gürtel war noch frei. Und ich konnte den obersten Knopf öffnen. Was ich im Augenblick nicht tun wollte, da Clarissa mir genau zwischen die Beine schaute. Ich stützte die Arme auf den Oberschenkeln ab und faltete die Hände. Vornübergebeugt wiederholte ich meine Frage.
»Warum hat er das getan?« Sie grinste abfällig.
»Haben Sie wegen ihm das Namensschild anbringen lassen?«
Sie lehnte sich zurück. Sie sah erschöpft aus. Mit aller Kraft versuchte sie, trotz ihrer Trunkenheit kein Wort zu sagen, das sie hinterher bereuen würde, und meine Fragen so oft wie möglich in ihrem Kopf zu wiederholen.
»Ich hab das nicht gewusst…« Sie legte ihre linke Hand flach auf den Bauch. Was ich beinah anmutig fand. »Er hat sich… Verstehen Sie…« Sie suchte nach zusammenhängenden Sätzen.
Ich sagte: »Kann ich noch ein Glas Wein haben?«
Sie schob die Flasche von sich weg. Ich beugte mich so weit wie möglich vor und streckte die Hand aus. Umständlich bekam ich die Flasche zu fassen, goss mein Glas unhöflich voll und stellte die Flasche auf den Boden.
»Er hat sich abgemeldet, genau wie ich«, sagte Clarissa.
»Er hat… er hat mir erzählt, er hat sich in Haidhausen angemeldet, in der Wörthstraße, das ist da, wo seine Freundin wohnt. Aber er hat nicht ihre Adresse angegeben, sondern eine andere. Er wollte es einfach so, verstehen Sie? Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht, warum. Er hat sich ordentlich umgemeldet und dann, ungefähr ein Jahr später, ist er wieder auf die Behörde gegangen und hat sich unter Theresienhöhe 6 c eintragen lassen. In Wirklichkeit wohnte er weiterhin bei seiner Freundin in Haidhausen. Und jetzt wollen Sie wissen, wieso jemand so was macht.«
»Er hat sich vor drei Jahren umgemeldet«, sagte ich. »Zu dieser Zeit wohnte jemand anderes in dem Appartement.«
»Natürlich, ich hab es dauernd vermietet. Das sind gute Einnahmen. Ich werd wahrscheinlich bei TV9 aufhören, das führt hier alles zu nichts, ewig derselbe lokale Kram, das interessiert mich nicht, ewig dieselben Schädel…«
»Sie haben sich mit Ihrem Exmann getroffen«, sagte ich, »auch nach der Trennung.«
»Mein Gott!«, rief sie. »Er hat mich gerührt! Er hat mich immer gerührt! Das war ja das Problem! Ich wollt ihm helfen, immer schon, ich hab gedacht, ich krieg ihn irgendwie auf die Reihe, verstehen Sie? Ich wollt ihn nicht ändern, ich hab ihn unterstützt bei seiner Schauspielerei, ich hab ihn ermutigt… Aber ich wollte, dass er die Realität zur Kenntnis nimmt, dass er aufhört, wie ein… wie ein… ein erwachsenes Kind rumzulaufen, das den ganzen Tag Spiele spielt… Ich hab immer gedacht, irgendwann hört das auf, irgendwann hört er… Er hat nicht aufgehört. Und dann traf ich ihn, und er sagt, er wohnt jetzt wieder im Hochhaus, und ich sag, ob er das gut findet nach allem, was passiert ist, und den ganzen Erinnerungen, und er sagt… er sagt, er wohnt ja nicht wirklich dort, nur in den Erinnerungen, er führt jetzt das Leben von damals nochmal, aber besser, geschickter… geschickter, sagte er, geschickter…«
Sie weinte. Sie wollte es nicht, sie riss die Augen auf und presste die Hand fest auf ihren Bauch.
»So ein… so ein Dummkopf! Ich hab gesagt, er soll damit aufhören, und er antwortet, das schadet doch
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