Süden und der Straßenbahntrinker
kein einziges Geräusch gehört.
Clarissa brachte zwei kleine schlanke Gläser und eine Flasche Grappa mit. Sie goss die Gläser drei viertel voll, reichte mir eines und hob ihr Glas. Ohne ein Wort kippte sie den Schnaps runter, sah mich an und wartete, bis ich ebenfalls trank. Der Grappa hatte mindestens fünfzig Prozent.
»Deshalb ist mein Mann von der Bühne gefallen«, sagte Clarissa.
»Er hat getrunken!«
»Er hat nicht getrunken!«, schrie sie mir ins Gesicht.
»Er hat darin gebadet! Gebadet! Er hat die Wanne mit Rotwein voll gefüllt und sich reingesetzt. Können Sie sich das vorstellen? Er hat im Wein gebadet! Er hat sich einen billigen Fusel gekauft, um sich darin zu baden. Und danach hat er sich abgetrocknet, sich angezogen und die Wohnung verlassen.«
Sie schrie: »Können Sie sich vorstellen, wie jemand riecht, der in Rotwein gebadet hat?« Sie brüllte mir das Wort ins Gesicht: »Ge-ba-det!« Sie machte ein tschilpendes Geräusch, und ich dachte, sie würde mir ins Gesicht spucken.
»Ihr Exmann ist Alkoholiker?«, sagte ich.
Sie sah mich an, als wäre ich bunt vor Blödheit.
»Mein Mann ist kein Alkoholiker, er ist verrückt!«, brüllte sie. Dann stürzte sie zum Fenster und lehnte sich hinaus. »Verrückt!«, schrie sie gegen den Regen, fuhr herum, holte aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
Der Schlag war hart und ich tastete mit der Zunge nach den Zähnen.
Wir standen uns gegenüber, sie mit dem Rücken zum Fenster, und ich sah hinter ihr eine Straßenlampe, die im Wind leicht schwankte.
Meine Wange brannte.
Ich goss Grappa in beide Gläser. Clarissa zitterte, als sie das Glas nahm. Wir tranken gleichzeitig.
»Und wenn er dann am nächsten Tag aufwachte, vorausgesetzt, er war vorher nach Hause gekommen und hatte nicht bei einer seiner Gespielinnen übernachtet, duschte er. Mit Wasser! Trank einen Eimer Kaffee, hockte in der Küche und wartete darauf, dass ich was sagte. Und wenn ich nichts sagte, wissen Sie, was er dann gesagt hat? Was er dann gesagt hat? Er sagte: Das schadet doch nicht. Das schadet doch niemandem. Ich hab jahrelang mit einem Verrückten gelebt und erst in den letzten zwei Jahren unserer Beziehung hab ichs kapiert.«
»Konnten Sie ihm nicht helfen?«, sagte ich. Und sah, wie sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. Aber sie wandte sich ab, stellte ihr Glas auf einen niedrigen Bücherschrank und kehrte mir den Rücken zu.
»Ich war bei einem Arzt, Jeremias wusste nichts davon, ich hab dem Arzt alles erzählt, er meinte, ich soll gemeinsam mit meinem Mann wiederkommen. Zwei Jahre später haben wir uns getrennt. Zwischendurch ging es ihm besser. Aber das Seltsame war…« Jetzt sah sie mich an.
»Wenn es ihm besser ging, hatte er Aussetzer, er verwechselte Termine, er vergaß, wann er jemanden getroffen hatte, er hatte Schwierigkeiten beim Textlernen, er verhaspelte sich beim Sprechen, nicht nur im Studio, auch privat… Er… er war… Und er kam gar nicht auf die Idee, dass er krank sein könnte, schwer krank. Er dachte… er dachte… Ich weiß nicht, was er dachte… Er machte sich keine Sorgen um sich, keine Sorgen, niemals… Aber ich…«
Wieder sah sie auf die Uhr, dann zur Tür, dann wieder auf die Uhr.
»Und Sie bleiben dabei, dass Sie ihn vor drei Jahren zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte ich.
»Vor zwei Jahren«, sagte sie.
Es war nur ein mickriger Versuch gewesen sie zu testen. So betrunken sie auch war, sie log immer noch.
»Ich bin verabredet, schon seit einer Stunde«, sagte sie.
»Unser Gespräch ist beendet.«
»Danke für Ihre Offenheit«, sagte ich. Sie wandte sich ab.
8
W enn ich Alkohol trank, geriet ich in einen Zustand von Selbstverlorenheit, den ich am nächsten Tag unfassbar fand. Ich wurde nicht laut oder aggressiv und selten versank ich in trostlosen Erinnerungen. Auch irrte ich nicht umher, taumelte nicht gegen Wände oder Menschen, redete nicht wirr oder grölte. Was mit mir passierte war, dass ich mich in meinen Schatten verwandelte und davonstahl wie ein Dieb. Als hätte ich den Mann, dem ich meine Existenz als Schatten verdankte, seiner eigenen Existenz beraubt und ihn als einen Haufen Lumpen zurückgelassen, der nicht einmal als Vogelscheuche taugte, weil kein Vogel ihn bemerken würde.
Für diesen Zustand gab es keine andere Beschreibung, ich sah die Worte vor mir, als hätte ich sie aufgeschrieben, jedes Mal, wenn ich zu früh begonnen hatte zu trinken und es nicht schaffte aufzuhören. Und so wie
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