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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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das Tageslicht schwand, verschwand ich selbst, so schien mir, im Gefolge meines Schattens, in den ich mich schließlich bei Einbruch der Nacht ganz verwandelte. Ich gehörte dann nicht mehr mir. Fast war es, als wäre ich fähig, mir bei all dem zuzusehen, was ich tat, während ich noch mehr Alkohol trank und immer stärker außer mich geriet.
    Obwohl ich mir einbildete, keinen Körper zu besitzen, vielleicht etwas anderes als ein Mensch zu sein, glühte ein unbändiges Verlangen in mir, ich gierte nach den Händen einer Frau, ihrem Duft, ihrem Schweiß, ihrem Schreien. Maßlos steigerte ich mich in eine ekstatische Anwesenheit hinein, das vollkommene Gegenteil meines tatsächlichen Verhaltens, das aus nichts weiter bestand als dazusitzen, die Hand zu heben, zu trinken und zu schweigen, in die Ecke gekauert, den Kopf auf die Faust gestützt. Jeder hielt mich für den üblichen Säufer, niemand erkannte mich.
    In solchen Momenten sah ich manchmal eine Straße vor mir, keine bestimmte Straße, nur eine Straße, auf der man gut gehen konnte. Und ich wusste, wenn ich dieser Straße folgen würde, wenn ich den Mut hätte mich nicht zu fragen, ob ich an der nächsten Gabelung die Richtung ändern solle, dann wäre ich fähig zu erkennen, wer ich wirklich war und was ich wirklich in dieser Welt wollte. Dann würde ich begreifen, warum meine Mutter gestorben und mein Vater verschwunden war, was die Gesänge bedeuteten, die ich in manchen Nächten in mir hörte, und welche Lehre ich aus der Einsamkeit zu ziehen hatte, die mich umgab, seit ich denken konnte.
    »Höre«, sagte ich und begriff vage, dass ich mich im Fond eines Autos befand, an dessen Steuer Esther Kolb saß, »es ist eine Sache, sehen zu können, aber es ist ein viel größeres Geschenk, die Dinge sehen zu können, auf die es wirklich ankommt.«
    »Wer sagt das?«, hörte ich eine Stimme von vorn.
    »Ein indianischer Schamane«, sagte ich.
    »Was hast du mit Schamanen zu tun?«
    »Spielt keine Rolle jetzt.«
    Als ich aufwachte, stand ich vor jener Missgeburt aus Beton.
    In den folgenden Stunden stürzten wir uns ineinander. Hinterher tastete ich meinen schweißnassen Körper nach Feuerstellen ab, die noch immer glühten. Esther lag neben mir auf dem Bauch, die Beine leicht gespreizt, und weil ich sie länger als drei Sekunden betrachtete, fiel ich noch einmal über sie her.
    Danach schliefen wir, bis in einer fernen Gegend des Universums etwas klingelte. Jemand schlug mir auf den Kopf.
    »Wach auf, Schamane!« Mein linkes Auge gehorchte.
    Esther drückte mir ihr schnurloses Telefon in die Hand, von der ich mir nicht sicher war, ob sie zu mir gehörte. Am anderen Ende der Verbindung hörte ich jemanden schnaufen.
    »Ja?«, sagte meine Stimme.
    »Entschuldigung«, sagte eine andere Stimme. »Die Kleidung gehört mir nicht, die gehört Ihnen, Entschuldigung…«
    Langsam kehrte ich dahin zurück, wo ich war.
    »Herr Holzapfel?«
    »Das bin ich nicht.«
    »Wo sind Sie jetzt?«, sagte ich und sah sein Blouson und sein Hemd an einer Stuhllehne hängen.
    »Vor der Tür«, sagte er. »Vor der Tür. Ich muss jetzt los.«
    Ich sprang aus dem Bett, rannte durch den Flur, riss die Wohnungstür auf, lief eine Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Da stand niemand. Ich ging um das Haus herum. Das Gartentor war geschlossen. Ich lief hin und hielt auf der Straße nach ihm Ausschau. Autos fuhren vorüber, deren Fahrer zu mir hersahen.
    Jeremias Holzapfel hatte gelogen.
    Außer, er hatte in einem Auto gesessen und war schnell weggefahren. Unwahrscheinliche Variante.
    »Was fällt Ihnen ein!«, rief eine Frau, die auf dem Bürgersteig ihren Pudel spazieren führte.
    »Mir?«, sagte ich.
    »Das ist ja widerlich!«, rief sie und zerrte an der Leine. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nackt war.
    »Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte ich zweimal hintereinander und ging ins Haus. Ich beeilte mich nicht. Nackter konnte ich nicht mehr werden. Die Frau schimpfte unaufhörlich weiter.
    Nachdem ich mich angezogen hatte, setzte ich mich zu Esther in die Küche. Sie hatte einen Kaffee gekocht, der einen Pharao in seinem Sarkophag aufgeweckt hätte.
    »Du bist schön flink für deine Figur«, sagte sie. »Und gewandt bist du auch.«
    »Ich bin gewandt?«, fragte ich.
    »Ja, gewandt.«
    »Gewandt«, sagte ich. Und weil ich gerade an Pharaonen gedacht hatte, fiel mir etwas ein. »Weißt du, wie der erste Cinemascopefilm hieß?«
    »Bitte?« Sie lächelte und ich überlegte sofort, ob

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