Süden und der Straßenbahntrinker
Hauptdarstellerin. Ich war nicht einmal eine Darstellerin. Ich war echt. Klar? Und er sagte, das macht ihm nichts aus, ich soll ihn nur sein lassen, er stört mich doch nicht. Aber das tat er. Das tat er. Und irgendwann ist er dann runtergestürzt von seiner Bühne. Irgendwann hat er zu viel gespielt. Oder falsch? Egal. Er ist aus seiner eigenen Inszenierung rausgefallen. Er hat einen Fehler gemacht, vielleicht hatte er nicht gut genug geprobt.«
Sie lachte mich an. Lautlos.
»Und dann kapierte er, dass er allein war. Und dass es die Welt, die er sich vorgestellt hatte, nicht gab. Die Welt, in die er gestürzt war, kannte ihn nicht, und er kannte die Welt nicht. Jeremias Holzapfel existierte auf einmal nicht mehr. Und jemand…«
Sie zeigte mit dem Glas, das sie ausgetrunken hatte, auf mich.
»Jemand, der nicht existiert, kann niemals vermisst werden. Das ist vollkommen logisch, Herr Süden.«
7
W ir tranken eine zweite Flasche Wein. Manchmal sah sie auf die Uhr, dachte nach, sah ein zweites Mal auf die Uhr und hob ihr Glas.
»Ich hab heute frei«, sagte sie.
Ich sagte: »Und ich hab Urlaub.« Sie betrachtete eine Weile ihr Glas.
»Warum sind Sie dann hier?«, sagte sie dann. Ich sagte nichts.
»Sind Sie ein Überstundenfanatiker?«
Womöglich hatte sie Recht. Anstatt Überstunden abzubauen, sammelte ich neue.
»Auf jeden Fall können wir dann ja beschwingt weitertrinken«, sagte sie.
»Wann kommt Ihr Freund?«
»Wollen Sie ihn wieder verhören?« Ich erwiderte nichts.
Sie schwieg.
Beim Einschenken sagte sie: »Nachdem wir aus dem Gerichtsgebäude raus waren und jeder seiner Wege ging, hatte ich an der nächsten Straßenecke schon vergessen, dass ich mal verheiratet war.«
Sie trank. »Können Sie sich das vorstellen?«
»Ja.«
Sie glaubte mir nicht.
»Wann war das?«, fragte ich.
»Vier Jahre her, etwa.« Für einen Moment wurde ihr Blick verschwommen, und sie brachte ihn nicht schnell genug unter Kontrolle. Sie begriff, dass ich es bemerkt hatte, sagte aber nichts.
Ich sagte: »Ich muss was notieren.« Sie nickte.
Ich zog meinen kleinen karierten Block und den Kugelschreiber aus der Hemdtasche. In einer Stunde würde ich nicht mehr in der Lage sein etwas aufzuschreiben, außerdem hätte ich dann sowieso alles vergessen.
»Entschuldigen Sie mich.«
Clarissa Holzapfel stand auf, strich sich den Rock glatt und wankte durchs Zimmer. Sie gab sich Mühe gerade zu gehen, doch mehr als die Schultern zu straffen, schaffte sie nicht. Ein paar Sekunden musste sie sich sogar am Türrahmen abstützen. Dann hörte ich, wie sie die Badezimmertür von innen verriegelte, und ich hörte den Toilettendeckel gegen den Spülbehälter krachen.
Vor vier Jahren hatte Clarissa sich scheiden lassen. Vor vier Jahren beendete Holzapfel seine Arbeit beim Rundfunk, angeblich wegen Alkoholproblemen, Frauengeschichten und internen Auseinandersetzungen. Zu dieser Zeit hatte er bereits ein Verhältnis mit Esther Kolb. Und mit einer anderen Frau, Inge Hrubesch, mit der er anscheinend enger befreundet war, da Esther sie kannte, zumindest dem Namen nach. Und bevor sich das Ehepaar Holzapfel trennte, lebte es vermutlich gemeinsam in der Wohnung, unter deren Adresse Jeremias gemeldet war, obwohl Clarissa das Appartement offiziell vermietet hatte. Vor zwei Jahren, behauptete sie, habe sie ihren Exmann zum letzten Mal gesehen.
»Hallo«, sagte sie, als sie ins Zimmer zurückkam.
»Grüß Gott«, sagte ich.
»Haben Sie Hunger?«
»Ja«, sagte ich. »Aber ich habe keine Lust zu essen.«
»So wie ich.«
Sie ließ sich neben mich auf die Couch fallen. Stöhnte. Blickte zum Stuhl, in dem sie gesessen hatte.
Ich stand auf, nahm mein Glas und setzte mich in den Stuhl.
»Haben Sie Angst vor mir?«, fragte sie.
»Nein.«
»Warum setzen Sie sich dann weg?«
»Haben Sie und Ihr Exmann früher in dem Appartement gewohnt?«, fragte ich.
Sie brauchte eine Weile, bis ihr einfiel, welches Appartement ich meinte.
»Nein.« Sie betrachtete die Weinflasche, hielt sie mir hin. Ich musste aufstehen, um mir einzuschenken. »Wir wohnten in dem Hochhaus. Und als meine Mutter mir das Geld vererbte, hab ich mich umgehört. Und zufällig wurde im Haus eine Wohnung zum Kauf angeboten.«
»Wann?«
»Ist mindestens zehn Jahre her.«
»Und nach der Trennung vor vier Jahren ist Ihr Mann in das Appartement gezogen?«
Sie winkte ab und sah auf die Uhr. »Der hat nie darin gewohnt.«
»Aber er ist dort gemeldet.«
Sie fing an sich mit Zeige und
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