Süden und der Straßenbahntrinker
als sie mir die Tür öffnete, kam es mir vor, als habe sie mich erwartet.
»Mögen Sie Rioja?«, fragte Clarissa Holzapfel.
Es war kurz nach ein Uhr mittags, und es gab keinen Grund, keinen Rotwein zu trinken.
Clarissa war Mitte vierzig, hatte halblange blonde Haare und sah aus wie eine Nachrichtensprecherin im Fernsehen. In Wahrheit war sie Chefredakteurin eines lokalen Privatsenders und Besitzerin von drei Handys, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
Durch das offene Fenster drang Straßenlärm herein, ziemlich laut, den Clarissa nicht mehr zu hören schien. Sie saß auf einer kleinen roten Couch und prostete mir zu. Vielleicht waren ihre Kontaktlinsen verschmutzt. Oder sie hatte eine Entzündung der Netzhaut. Oder die Flasche auf dem Tisch war nicht ihre erste für heute.
Aber sie machte keinen betrunkenen Eindruck. Sie machte den Eindruck von jemandem, der sich jeden Satz genau überlegte. Und der den ganzen Vormittag damit verbracht hatte nachzudenken. Und zwar allein.
»Schmeckt Ihnen der Wein?«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich. »Wie gehts Ihnen?«
Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über ihr Gesicht.
Und bevor sie verärgert wurde, weil sie vermutete, ich hätte auf ihr Trinken angespielt, sagte ich: »Machen Sie sich Sorgen um Ihren Exmann?«
Sie nickte. Fuhr mit dem Daumen sehr langsam über den Rand des Glases.
»Er war nicht hier. Mein Freund hat mir erzählt, Sie hätten ihn verhört…«
Ich sagte: »Ich verhöre nicht.«
»Ist ja auch egal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Jeremias ist als vermisst gemeldet worden? Von wem? Und wo ist er jetzt?«
»Ich bin hier, weil ich das wissen möchte.«
»Warum…« Sie trank und stellte das Glas akurat auf das blaue runde Deckchen. »Warum möchten Sie das wissen, Herr…«
»Süden.«
»Sie sind von der Mordkommission?«
»Vermisstenstelle.«
»Klar, Sie suchen ja meinen Exmann. Aber wer hat ihn als vermisst gemeldet, das hab ich noch nicht verstanden. Inge?«
»Seine Freundin?«, sagte ich.
»Das weiß ich nicht, ob sie noch seine Freundin ist.«
»Niemand hat ihn als vermisst gemeldet, er ist plötzlich aufgetaucht und hat erklärt, er war jetzt wieder da.«
»Ja?«, sagte sie und runzelte die Stirn. Offenbar dachte sie mehr und mehr, ich würde ein Spiel mit ihr treiben, das sie nicht durchschaute.
»Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Wofür?«
Ich beugte mich vor und stellte mein Glas auf den Tisch. Dann stand ich auf, ging zum Fenster und sah auf die viel befahrene Straße und die Kreuzung hinunter, wo abbiegende Autos die Tram blockierten. Und der Straßenbahnfahrer, als wäre er tatsächlich überzeugt, er würde damit etwas erreichen, drückte unermüdlich auf die schnarrende Klingel.
Ich drehte mich zu Clarissa um. Sie hatte den Kopf gesenkt.
»Ist Ihr Exmann krank?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht«, sagte sie, den Blick noch immer auf ihr Weinglas gerichtet. »Erklären Sie mir, was passiert ist!«
»Das kann ich nicht«, sagte ich.
Sie biss sich auf die Unterlippe, trank ihr Glas aus und sah zur Tür, die in den Flur hinausführte.
Auf der Straße hatte das Klingeln aufgehört. Vor dem Haus war eine Haltestelle der Linie, mit der ich hergekommen war, nachdem ich mich von Esther verabschiedet hatte und mit dem Taxi zum Sendlinger Tor gefahren war. Eine kurze Strecke, die den Taxifahrer fabelhaft geärgert hatte.
»Wann haben Sie Ihren Exmann zum letzten Mal gesehen?«
»Das weiß ich nicht!«, sagte sie laut.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ungefähr«, sagte ich.
»Vor zwei Jahren«, sagte sie.
Ich schwieg.
Es blieb ihr nichts, als mich anzusehen. Ich schwieg weiter. In der Art, wie sie »vor zwei Jahren« gesagt hatte, war ein neuer Ton.
»Was war vor zwei Jahren?«, fragte ich.
Sie sagte: »Wir haben uns zufällig in der Stadt getroffen, beim Einkaufen, wir sind einen Kaffee trinken gegangen, das war alles.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Das weiß ich doch jetzt nicht mehr!«, sagte sie ebenso nachdrücklich wie vorhin.
»Wie ging es Ihrem Exmann damals?«
»Gut.«
Gut. Schnitt. Schweigen. Ich blickte zur gegenüberliegenden Wand, wo eine Vitrine mit Gläsern und Geschirr stand, darauf eine kleine Vase.
Gut.
Sie hatte ihn nicht vor zwei Jahren gesehen. Sondern später. Vielleicht erst vor kurzem. Sicherlich sogar.
»Wo ist Herr Schulze?«, fragte ich.
Sie hob ihr Glas. »In seinem Büro.« Sie trank. Ich ging zum Tisch und nahm die Flasche.
»Wollen Sie mich
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