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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ich dieses Lächeln schon kannte oder womöglich vergessen hatte.
    Sie trug einen weißen Bademantel ohne Gürtel und hatte die Beine übereinander geschlagen. Im Grunde war sie unbekleidet.
    »Der erste Kinofilm in Breitwandformat«, sagte ich. Sie sagte: »Ich weiß, was Cinemascope bedeutet.«
    »Der Film hieß ›Das Gewand‹«, sagte ich.
    »›Das Gewand‹«, wiederholte sie. »Du denkst vielleicht um sieben Ecken!«
    »Wieso bin ich gewand?«
    »Gewandt«, sagte sie. »Oder wendig. Du bist wendig. Würde man dir gar nicht zutrauen bei deinem Bauch und so weiter.«
    »Was genau ist ›und so weiten?«
    »Erinnerst du dich, dass du gesungen hast?« Ich erinnerte mich nicht.
    »Auf der Straße. Kaum waren wir draußen, hast du angefangen zu singen.«
    »Was habe ich gesungen?«
    »Keine Ahnung. War nicht zu verstehen. Du hast gesungen, die Worte waren unverständlich.«
    Ich schwieg.
    »Und später warst du wendig«, sagte sie und trank ihren Kaffee und lächelte wieder. »Wer hat in dem Film mitgespielt? Ich kenn ihn nicht.«
    In den Oberschenkeln spürte ich ein Ziehen und an anderen Stellen eine Art Muskelkater, auch wenn das garantiert nicht das richtige Wort dafür war.
    »Richard Burton«, sagte ich. »Und Jean Simmons, die anderen Schauspieler habe ich vergessen. Das war Anfang der Fünfziger. Ich habe den Film im Fernsehen gesehen, in Schwarz-Weiß. Lächerlich!«
    »Gehst du viel ins Kino?«
    »Manchmal.«
    »Manchmal gehst du viel ins Kino?«, sagte sie, stellte ihre Tasse auf den Tisch und kam zu mir her.
    »Sei nochmal wendig mit mir!«, sagte sie.
    Wenn man es genau nahm, war die Frau, die auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hatte – ich hörte ihn ab, als ich an diesem Dienstag Mittag nach Hause kam –, meine Freundin. Andererseits sahen wir uns immer weniger, was bedeutete, wir schliefen auch immer weniger miteinander und keinesfalls immer dann, wenn wir uns sahen. Sie hieß Ute Fröhlich, war drei Jahre älter als ich, und seit etwa einem Jahr schafften wir es nicht uns zu trennen.
    »Wo bist du?«, sagte sie auf dem Anrufbeantworter. »Warum rufst du mich nicht an?«
    Wo bist du? Warum rufst du mich nicht an? Wo war ich? Warum rief ich sie nicht an?
    Ich nahm mir vor, mich zu melden, heute noch. Von Esther würde ich ihr nichts erzählen. Was war mit Esther? Würde sie mir bald die gleichen Fragen stellen? Beim Abschied hatten wir nichts ausgemacht. Sie wusste, wo sie mich erreichen, und ich wusste, wo ich sie erreichen konnte. Ob sie einen Freund hatte, war mir egal. Mich hatte sie ebenfalls nicht ausgefragt. Oder doch? Ich hatte gesungen, hatte sie behauptet. Nicht, dass ich mir das nicht vorstellen könnte, ich sang öfter, allerdings nur, wenn ich allein war, meine spezielle Pfeife rauchte und um ein Sechseck aus kleinen Knochen tanzte. Ein Ritual, dem ich als Kind beigewohnt hatte, als mein Vater meine Mutter und mich zu einem Sioux-Schamanen nach Amerika mitgenommen hatte, weil er hoffte, dieser würde meine kranke Mutter heilen. Bis heute ist mir ein Rätsel, wie er auf diesen Medizinmann gekommen war und woher er das Geld für die Reise gehabt hatte.
    Der weise Mann schenkte mir eine lederne Halskette mit einem blauen Amulett, auf dem ein Adler abgebildet war, einen Kranz aus Federn und eine Handvoll winziger Tierknochen, aus denen ich ein Sechseck bilden musste, wenn ich sie benutzte. Außerdem gab er uns eine Trommel aus Lärchenholz und Rentierleder mit, eine Pfeife aus Ton und einen Tabaksbeutel mit Kräutern und kleingehackten Pilzen darin. Einmal, höchstens zweimal im Jahr rauchte ich die Pfeife, legte die Knochen auf den Boden, schlug die Trommel und sang. Das tat ich zum Gedenken an meine Mutter, die starb, als ich dreizehn war, und als Gruß an meinen Vater, der fortging, als ich sechzehn war, und verschwunden blieb. Ich schlug die Trommel und schrie die Wände an.
    Trotzdem konnte ich mich nicht daran erinnern, vor dem Billardcafé gesungen zu haben.
    Ich duschte, zog eine schwarze Jeans an, die mir zu eng war wie die Lederhose, ein frisches weißes Hemd, braune Halbschuhe und meine Lederjacke, dann verließ ich das Haus. Wie nach einem kosmischen Gesetz kam mir Elsa Schuster entgegen, mit einer Gießkanne in der Hand.
    »Herr Süden!«, sagte sie schon von weitem und fuchtelte mit der grünen Plastikkanne. »Heut hab ich einen erwischt! Ha!«
    »Wen haben Sie erwischt?«
    »Einen Dieb! Einen Gießkannendieb! Der wollt sich mit meiner Kanne davonschleichen. Dem bin ich

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