Süden und der Straßenbahntrinker
da, am Sonntag, genau, am Sonntag, Sonntag Abend, ich hab noch kurz mit ihm gesprochen, er kam grad die Treppe runter…«
»Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Nichts Besonderes, er hatte es eilig, er hat schnell ›guten Abend‹ gesagt, glaub ich, ich hab ihn gefragt, wie es Inge geht, er war aber schon unten…«
»Wann haben Sie Inge zum letzten Mal gesehen?«
»Zum letzten Mal?«, fragte sie. Langsam wurde sie unruhig.
»Haben Sie einen Schlüssel zu ihrer Wohnung?«, fragte ich.
Sie warf einen besorgten Blick hinter sich. Aber Sandra war nicht zu sehen. Ich hörte Stimmen aus dem Fernseher.
»Vielleicht ist sie ja da«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.
»Ich warte hier«, sagte die Frau.
Auf mein Klingeln passierte nichts. Ich klingelte fünfmal. Dann beugte ich mich über das Geländer.
»Haben Sie einen Zweitschlüssel?«, rief ich nach unten.
»Nein«, sagte die Frau. »Der Hausmeister hat einen, Herr Roderich.«
Nach kurzem Überlegen entschied ich zu ihm zu gehen. Er wohnte im Erdgeschoß und natürlich wollten er und die Frau, die bei ihm war und mit Vornamen Nike hieß, mit mir in die Wohnung kommen. Ich bat die beiden vor der Tür zu warten.
Es war eine geräumige Wohnung, einfache Holzmöbel, eine Truhe im Flur, ein ovaler, fast wandhoher Spiegel, unzählige Paar Schuhe. Parkettboden. In der Küche war das abgewaschene Geschirr ordentlich neben der Spüle aufgereiht, im Wohnzimmer gab es einen breiten, niedrigen modernen Fernseher, Ledersessel, Glasregale. Keine Zeitung lag herum, nirgends Hinweise darauf, dass sich hier vor kurzem jemand aufgehalten hatte.
In einem kleinen Zimmer hingen Fotos an der Wand, die eine Frau in jungen Jahren zeigten, in Bars, auf einer Insel, umringt von jungen schönen Männern. Auf einem antiken Sekretär lagen Illustrierte und Ringordner. Auch dieses Arbeitszimmer wirkte wie verlassen, es war sauber und gemütlich und gleichzeitig leblos.
Daneben lag das Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt, und noch bevor ich sie aufstieß, sah ich, dass jemand im Bett lag, zugedeckt bis zum Hals.
Eine Frau. Ihr Gesicht war weiß wie die dicke Daunendecke, unter der sie lag. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr braunes Haar lag wie ein Kranz um ihren Kopf. Das Gesicht war ungeschminkt, die Haut faltig, die Lippen schmale Striche, bläulich.
Ich schätzte sie auf Anfang bis Mitte sechzig. Ohne die Decke zu berühren, drückte ich mit zwei Fingern gegen ihren Hals. Die Frau war tot.
Vom Telefon einer Faxanlage im Arbeitszimmer rief ich im Kommissariat 112 an. In zwanzig Minuten würden die Kollegen von der Todesermittlung hier sein. Bis dahin hatte ich keine Chance herauszufinden, ob die Frau ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben war.
Ich dachte an den Mann in der gelben Jacke, der nun zu einem Verdächtigen geworden war, allerdings zu einem der am auffälligsten gekleideten, nach denen wir im Dezernat 11 jemals gefahndet hatten.
9
W ährend ich wartete, steckte ich die Hände in die Hosentaschen und lehnte mich ans Fensterbrett im Schlafzimmer. Sonst tat ich nichts. Es gab Kollegen, die trugen ständig Plastikhandschuhe bei sich, damit sie sie in Situationen wie dieser überstreifen konnten. Um nicht aus Versehen Fingerabdrücke zu hinterlassen, vergrub ich die Hände lieber in der Hose.
Ab und zu warf ich einen Blick zu der toten Frau im Bett. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass sie sich selbst so hingelegt und zugedeckt hatte. Die Decke war glatt gestrichen, und die Haare der Frau waren geradezu kunstfertig drapiert.
Dann hatte ich plötzlich einen Gedanken, auf den ich bisher nicht gekommen war. Ich öffnete die Wohnungstür. Draußen standen Nike und der Hausmeister und flüsterten miteinander. Als sie mich sahen, hörten sie sofort damit auf.
»Kommen Sie bitte!«, sagte ich zu Nike.
Ich schloss die Tür hinter ihr und dirigierte sie ins Schlafzimmer. Erschrocken sah sie mich an.
»Ist das Frau Hrubesch?«, sagte ich.
Sie nickte. Dann machte sie einen Schritt auf das Bett zu.
»Aber… sie hat andere Haare…« Sie beugte sich vor.
Auch ich ging zum Bett. Vielleicht hätte ich es bemerken müssen, aber weil ich darauf gepolt war, dass mich die Untersuchung einer Leiche nichts anging, hatte ich nicht besser hingesehen.
»Eine Perücke«, sagte Nike.
»Hat sie oft Perücken getragen?«
Nike kratzte sich am Unterarm und sah sich um. Etwas irritierte sie.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte ich.
Sie sagte: »Zons. Nike Zons. Hier
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