Süden und die Schlüsselkinder
begriffen hatte, wie sehr sein Freund im Lauf der Zeit innerlich ausgefranst war und Hilfe nur im äußersten Notfall zuließ, kletterte Martin Heuer eines Nachts in den Müllcontainer eines Bordells und schoss sich aus seiner Dienstwaffe eine Kugel in den Kopf.
Niemand war rechtzeitig zur Stelle gewesen. Niemand hatte den Tag erkannt, auch nicht Martin Heuers bester Freund.
Bald darauf bat Süden um die Entlassung aus dem Staatsdienst und zog nach Köln, wo er als Kellner seinen Unterhalt verdiente. Sieben Jahre später kehrte er nach München zurück. Aus Geldmangel und weil er, wie er begriff, wenig anderes besser konnte, begann er abermals, nach Verschwundenen zu suchen, von nun an im Auftrag der Detektei Liebergesell.
Und seit dem Tag der Beerdigung auf dem Waldfriedhof redete er manchmal mit seinem toten Freund und dieser mit ihm. »Ich verstehe den Jungen nicht«, sagte Süden. Er ging die Franziskanerstraße in Richtung Ostfriedhof, ohne konkretes Ziel.
Der Lagerarbeiter hat die Familie zerstört, er ist die Ursache für die Trennung der Eltern.
»Das wissen wir nicht, außerdem sind die Eltern nicht getrennt.«
Was sind sie dann? Sie haben sich in verschiedenen Verliesen eingerichtet, jeder auf seine Weise.
»Warum soll ich den Mann umbringen? Woher kommt dieser Gedanke in dem Kind? Was stellt er sich vor, was danach passiert?«
Das spielt keine Rolle.
»Für mich schon.«
Du nimmst dich zu wichtig. Der Junge will den Mann beseitigt wissen, nichts weiter. Er will, dass sich die Tür wieder öffnet, die Tür zur Kindheit, so, wie er sie kennt.
»Die Kindheit, die er kennt, war auch ohne den Lagerarbeiter schon verschlossen.«
Aber nun hat er jemanden, den er dafür verantwortlich machen kann.
»Was soll ich tun?«
Verlauf dich nicht.
»Das sagst ausgerechnet du. Du hast dich dein halbes Leben lang verlaufen.«
Und wie ging’s aus?
»Entschuldige.«
Süden kam an einem McDonald’s-Restaurant vorüber, das bis zwei Uhr nachts geöffnet hatte. Zwei Autos warteten an der Ausgabestelle. Drinnen, in der gelben Beleuchtung, waren Jugendliche zu erkennen, die von Tabletts aßen.
Denk gar nicht dran.
»Warum nicht? Ich habe Hunger, Durst auch.«
Dein Ranzen hat noch Reserven. Du bist im Dienst.
»Wo ist der Junge?«, sagte Süden und setzte seinen Weg fort, grimmig beknurrt von seinem Magen. »Was hat er vor?«
Offensichtlich will er, dass du Dinge für ihn erledigst.
»Er konnte nicht wissen, dass ich mich nach ihm auf die Suche machen würde. Wem hätte er sonst geschrieben? Fanny?«
Wem sonst? Sie weiß alles, und du weißt nichts.
»Du etwa? Ich habe jemanden übersehen, eine Person aus dem Umfeld der Familie, einen Vertrauten von Adrian, einen geheimnisvollen Fremden. Ich glaube nicht, dass er durch die Stadt irrt, er verfolgt einen Plan. Und er scheint einen Unterschlupf gefunden zu haben, er hat Proviant. Und wenn er nur spielt? Wenn er mich doch in die Irre führen will, um Ruhe zu haben? Endgültig?«
Er ist zehn Jahre alt. Und selbst wenn er älter wäre: Potenzielle Selbstmörder führen niemanden in die Irre, der Aufwand lohnt nicht, sie verschwinden lautlos und kehren nicht wieder.
»Ja«, sagte Süden.
Er hatte den Westeingang des Friedhofs erreicht. Hinter dem Eisentor brannten rote Kerzen auf den Gräbern.
Er nahm sich vor, noch vor Heiligabend Martins Grab zu besuchen und diesmal das Teelicht nicht zu vergessen.
Während Süden an der Kreuzung oberhalb des Nockherbergs nach einem Taxi Ausschau hielt und auf seinem Handy die Nummer von Nils Steinfeger wählte, fuhr der schwer angetrunkene Ludwig Richter mit einem schwarzen Audi A7 vor dem Sankt-Zeno-Haus vor. Er ließ den Zündschlüssel stecken, warf seine Fellmütze auf den Rücksitz, spuckte den Kaugummi auf die Straße und räusperte sich auf dem Weg zur Haustür. Seinen inneren Zustand zu verbergen, hatte er in langen Jahren als Verkäufer gelernt. Er wollte etwas, und er würde es kriegen.
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12
D ie Erleichterung über das höfliche Benehmen des mitternächtlichen Besuchers war der Therapeutin anzumerken. Sie atmete hörbar auf, als er versprach, »selbstverständlich« an der Tür zu bleiben und »keinesfalls« ins Haus kommen zu wollen. Er habe nur seiner großen Besorgnis Ausdruck verleihen und sich erkundigen wollen, ob sein Sohn sich womöglich inzwischen gemeldet habe. Nach dem Besuch des Detektivs sei er verzweifelt durch die Wohnung gelaufen, habe mehrfach versucht, seine Frau zu erreichen, ohne
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