Süden und die Schlüsselkinder
hörten sie bereits das Aufheulen des Motors und die auf der gefrorenen Schneedecke durchdrehenden Reifen eines davonrasenden Wagens.
Noch eine halbe Stunde später, in Gegenwart zweier Polizisten, fanden die erfahrenen Erzieherinnen nicht die geringste Erklärung dafür, warum sie sich von der dreisten Art des Mannes, dessen aggressive und hinterhältige Verhaltensweisen ihnen bekannt waren, hatten überrumpeln lassen.
Obwohl eine Handvoll Väter und Mütter, angetrieben von maßlosem Hass aufs Jugendamt, schon Versuche unternommen hatten, widerrechtlich ins Zeno-Haus einzudringen, war es bisher niemandem gelungen, sein Kind zu entführen. Und einen Tag vor Weihnachten kidnappte ein Vater nicht etwa sein eigenes Kind, sondern ein fremdes! Und keine der verantwortlichen Frauen und auch nicht die anwesenden Polizisten begriffen, was der Mann mit der Aktion bezweckte.
»Die suchen garantiert nach meinem 6er Cabrio«, sagte er zu Fanny, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. »Aber der steht entspannt beim Michi in der Werkstatt. Kennst du dich mit Autos aus?«
Fanny zeigte keine Reaktion. Von Richters Umklammerung hatte sie Schmerzen in der Brust. Ihre linke Wange brannte, weil er sie nach dem Einsteigen geohrfeigt hatte. Als sie sagte, ihr sei kalt, fuhr er auf einen Parkplatz, holte einen schwarzen Daunenanorak aus dem Kofferraum und warf ihn ihr über den Kopf. Sie zog ihn an und fror nicht mehr, nur noch an den Füßen, an denen sie nichts als ihre weißen Söckchen und die dicken grünen Wollsocken trug. Also klemmte sie die Füße unter ihren Po. Der Ledersitz war beheizt, was sie cool fand, aber nicht zeigte.
»Weißt du, wo wir hinfahren?«, fragte Richter.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Wir fahren so lang, bis ich weiß, wo Adrian ist. Und wenn du mir nicht sagst, wo er ist, werf ich dich in die Isar. Kannst du schwimmen?«
»Hmm«, machte sie, und ihr Herz schlug schnell.
»Wird dir nichts nützen. Ist zu kalt, die Isar. Wenn du Glück hast, erfrierst du, bevor du ertrinkst. Hast du Angst?«
»Ja«, hauchte sie.
»Dann sag mir, wo Adrian ist.«
Trotz der Wärme, die vom Sitz in ihre Füße und von dort in ihren Körper drang, fing sie wieder an zu frösteln, wie heute Abend, als sie aus dem Traum aufgeschreckt war und lange im Dunkeln gesessen hatte.
»Weiß ich nicht«, sagte sie mit dürrer Stimme.
»Du weißt es nicht.«
»Nein.«
»Du lügst.«
»Nein, ich lüg nicht, ehrlich. Er ist weggegangen, mehr weiß ich nicht.«
»Wohin ist er gegangen?«
Richter gab Gas, und der Wagen raste über eine Brücke und in einen Tunnel. Fanny sah aus dem Fenster. Außerhalb der Straßenlampen war alles schwarz, sogar der Schnee in der Ferne und der Fluss. Fanny dachte so vieles gleichzeitig, dass ihr fast schlecht wurde. Zwischendurch fiel ihr ein, dass sie Angst hatte. Dann ballte sie die Fäuste in den Anoraktaschen und hielt die Luft an. Sie senkte den Kopf, linste unauffällig nach links und betete stumm, der Mann würde nichts bemerken.
Im nächsten Moment überlegte sie, wie sie ihm das Handy klauen könnte, das er auf die Konsole zwischen den Sitzen gelegt hatte. Dann dachte sie wieder an Adrian, an seine Worte heute Morgen und gestern Abend, und seine Worte bildeten ein einziges Knäuel in ihrem Kopf.
Beinah hätte sie vergessen auszuatmen. Der Mann warf ihr einen schnellen Blick zu, weil sie nach dem langen Luftanhalten schnaufen musste.
»Gib Bescheid, wenn’s dir wieder eingefallen ist«, sagte er.
Auf dem Mittleren Ring herrschte wenig Verkehr. Fanny hatte keine Ahnung, durch welche Stadtteile sie fuhren. Sie war in München aufgewachsen, aber aus Trudering nie groß herausgekommen, soweit sie sich erinnern konnte. Daran durfte sie jetzt nicht denken.
Wenn Adrian erfuhr, was gerade mit ihr passierte, würde er wütend werden, da war sie sich sicher. Er würde sie ausschimpfen, weil sie das Spiel seines Vaters mitspielte und sich nicht wehrte, so wie er es getan hatte. Sie wehrte sich doch!, dachte sie. Sie saß doch nicht tatenlos herum, sie tat eine Menge, wenn auch vorläufig bloß im Kopf. Das zählte genauso. Manchmal war Adrian ein echter Schlaubauch, das nervte sie. Falsche Gedanken!, dachte sie.
Vielleicht sollte sie einfach sagen, ihr wäre schlecht, sie müsste gleich kotzen, da würde er bestimmt anhalten, damit sein sauberes Auto nicht schmutzig wurde. Schlechter Plan. Das Wichtigste war …
Im nächsten Moment kippte sie vornüber und landete unter
Weitere Kostenlose Bücher