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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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rosafarbenen Handy, das ihm mehr und mehr wie ein kurioses Spielzeug vorkam, wollte Süden gerade die Nummer von Nils Steinfeger wählen, dem angeblichen Liebhaber von Adrians Mutter, als es klingelte.
    Er hörte die Melodie zum ersten Mal – der Refrain eines englischen Songs, den er nicht kannte. Nummer und Name des Anrufers wurden angezeigt. Süden war so überrascht, dass er beinah auf den falschen Knopf gedrückt hätte.
    Er stand auf dem asphaltierten Weg vor dem Eiscafé Marco Polo, das mittlerweile geschlossen hatte und in dessen Schaufenster die winzigen elektrischen Kerzen eines künstlichen Weihnachtsbaumes brannten. Am Tresen blinkten die Augen eines Weihnachtsmannes.
    »Süden.«
    »Hier ist der Adi.«
    Süden horchte der zittrigen, leisen Stimme nach.
    »Hörst du mich?«, fragte der Junge.
    »Ja. Wo bist du?«
    »Hier.«
    »Ich freue mich über deinen Anruf.«
    »Wieso?«
    Weil ich jetzt weiß, dass du noch am Leben bist, dachte Süden und sagte: »Weil ich dann weniger allein in der Nacht herumstehe.«
    »Wo stehst’n du?«
    »Vor dem Haus vom Gregor.«
    »Warst du immer noch nicht drin?«
    »Doch. Ich soll dich von ihm grüßen, er wundert sich, dass du ihn nicht mehr anrufst.«
    »Stimmt ja gar nicht«, sagte Adrian laut und verstummte sofort. Süden hörte nichts mehr, vermutlich hielt der Junge das Handy zu.
    »Du hast ihn schon angerufen«, sagte Süden, der das Gespräch so lange wie möglich hinauszögern wollte. »Aber er ist nicht drangegangen.«
    Stille. Dann ein Flüstern: »Genau.«
    »Er ist sehr müde und krank, du darfst ihm nicht bös sein.«
    »Bin ich aber.«
    »Sollen wir gemeinsam zu ihm gehen?«
    Adrian schniefte. Ein Glas klirrte. Dann wieder völlige Stille in Südens Handy.
    »Wo bist du, Adrian?«
    Die dünne Stimme war kaum zu verstehen. »Sag ich dir nicht.«
    »Was soll ich tun? Ich tue, was du möchtest.« Süden horchte wie auf das Atmen eines Vogels.
    »Ich möchte …«
    Süden schwieg, was ihm schwerfiel. Dann hielt er es nicht mehr aus. »Was möchtest du, Adrian?«
    Im Hinterhof, zwischen der Wohnanlage und dem Penny-Markt, gellte ein Pfiff, dann rief ein Jugendlicher den Namen eines Freundes – Milan, Dilan. Kurz darauf vereinigten sich mehrere hallende Stimmen zu einem überschwenglichen Begrüßungschor.
    Das Handy ans Ohr gepresst, entfernte Süden sich einige Meter, als im selben Moment die Motoren zweier Autos auf der Franziskanerstraße aufheulten und die Straßenbahn klingelte. Süden fürchtete schon, er hätte inmitten der allgemeinen Krachverschwörung die Erwiderung des Jungen überhört. Als er sie dann hörte, glaubte er an einen verunglückten Scherz.
    »Ich möchte, dass du den Nils umbringst. Das möcht ich und sonst nichts.«
    »Bitte?« Mehr brachte Süden nicht hervor. Er hörte Adrian atmen. Aus der Ferne hörte er die Stimmen von Leuten, die aus einem Haus, vermutlich einer Kneipe, traten und lachten. Er hörte türkische Musik und erinnerte sich sofort, dass sie schon die ganze Zeit da gewesen war, irgendwo abseits der beleuchteten Ecken. Er hörte seine Schritte im harten Schnee. Stehen bleiben konnte er nicht. Dann hörte er wieder die Stimme im Handy, die so verzurrt wie entschlossen klang.
    »Ich möcht, dass du das machst, du musst den Nils umbringen. Bitte.«
    »Warum, Adrian? Warum soll ich so etwas Schreckliches tun?«
    »Ist nicht schrecklich. Traust du dich nicht?«
    Was sollte Süden darauf sagen? Er sagte: »Ich bringe niemanden um.«
    »Schad.«
    »Schad?«, wiederholte Süden. Er wiederholte es nur für sich, Adrian hatte die Verbindung schon gekappt.
    Das Wort brachte er nicht mehr aus dem Kopf.
    Schad.
    Schad, dass du niemanden umbringst.
    Schad, dass du Nils Steinfeger nicht umbringst. Schad.
    Dabei hatte der Junge höflich darum gebeten. Bitte, hatte er gesagt.
    Schad.
     
    Manchmal, wenn er wie ein Ausgestoßener in seinen Empfindungen umherirrte und Gedanken wie Brennstäbe mit sich schleppte, von denen er wusste, er würde sie niemals entsorgen können, so tief er auch grub, begab er sich in die Nähe eines Toten.
    Der Tote war sein ältester Freund. Er hatte ihn im Kindergarten mit Sand beworfen, in der Grundschule von ihm abgeschrieben, im Gymnasium die Ratlosigkeit mit ihm geteilt und im späteren Leben ein Büro und Nächte von monströser Dunkelheit.
    Vor vielen Jahren, als sie beide – seit mindestens zwölf Jahren – Hauptkommissare in der Vermisstenstelle der Münchner Kripo waren und Süden schon

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