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Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)

Titel: Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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sie.
    Dann riss er die Tür auf und schob Ariane hinaus. Sie wunderte sich, wie behutsam er die Tür schloss.
    »Schsch«, zischte er, »schsch.«
    Seine Arme umklammerten ihren Bauch. Unten drückte er sie gegen die Wand und öffnete die Haustür. Warf einen Blick auf die Straße. Packte Ariane im Nacken und dirigierte sie zum Auto. Sie ging gebückt, mit schlurfenden Schritten. Das schien ihn nicht zu stören.
    Lächelte er? Du bist dumm, dachte sie. Für einen Moment vergaß sie, dass ihr Mund zugeklebt war. Sie wollte schon Luft holen, um zu fragen: Wo fahren wir hin? Da hörte sie das Schlagen der Beifahrertür. Und das Geräusch des Motors. Und das verwirrte sie alles. Und sie fuhr sich mit der Hand über den Mund, der nicht mehr da war.
    »Kannst das Ding abreißen«, sagte Niklas Schilff.
    Das Auto war alt. Aber es machte ihm keine Mühe. Als hätte er diese Stadt nie verlassen, fand er die richtigen Straßen und gelangte zur Autobahn. Und gleichzeitig kroch er unters Federbett und stippte seine Nasenspitze gegen den Oberarm seiner Mutter und kostete von ihrem Geruch.
    »Danke«, sagte Ariane.
    Er fuhr geradeaus, vorbei an Wohnblocks und der langen Mauer eines Friedhofs. Er achtete nicht auf die Schilder. Er wusste, er würde den Weg finden. Er folgte einem leisen Schnarchen, von dem sein Vater sagte, es sei das Stöhnen eines schlafenden Engels. Und wenn Niklas fragte: Wieso stöhnen Engel im Schlaf?, antwortete sein Vater: Weil sie wie wir über Träume keine Macht haben und deshalb manchmal Teufeln begegnen, die sie quälen. So wollte Niklas seiner Mutter nah sein, wenn sie erwachte. Um sie sofort zu trösten.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte Ariane. Sie leckte sich die Lippen und hielt sich die Hand vor den Mund, als würde sie sich dessen schämen.
    »Was?«
    Schwarze Wälder, schwarze Wiesen säumten die Autobahn. In der Ferne, wusste er, waren die Berge. Und hinter den Bergen lag das Meer, das er ein einziges Mal gesehen hatte. Sachte, ganz sachte lugte er hinter dem Rücken seines Vaters hervor. Sein Vater trug einen langen Mantel. Und Niklas hatte die Augen zu. Um den Moment hinauszuzögern. Das wünschte er sich. Auch wenn er bis dahin noch nie über das Vergehen der Zeit nachgedacht hatte. Doch nun wollte er warten. Und sein Vater sagte: Was siehst du?, und er: Nichts. Und sein Vater: Dann mach die Augen auf. Und er machte sie auf. Und sah seine Mutter, wie sie die Arme in den Himmel streckte. Und wie die Sonne ihr rotes Haar beschien. Und ihr Gesicht war hell wie der Tag. Und dann sah er das Blau hinter ihr. Das unglaublich glitzernde Blau. Il mare, sagte sein Vater. Und Niklas rannte los. An seinem Vater, an seiner Mutter vorbei. Da war ein neuer großer Geruch, den es da, wo er wohnte, nicht gab. Und er hörte die Wellen. Und die Möwen. Und das Hupen von Autos. Und Kindergeschrei. Und er rannte durch den Sand, in Sandalen und Socken. Und kurz bevor der Strand aufhörte, bremste er ab und keuchte mit offenem Mund gegen das Meer.
    »Warum halten wir?«, fragte Ariane.
    Er war auf einen Parkplatz abgebogen. Er hatte sogar geblinkt, fiel ihm ein. Bei laufendem Motor saßen sie im Wagen. Und sahen sich in die Augen.
    »Ich werd dich umbringen«, sagte er.
    »Nein«, sagte sie.
    »Nicht jetzt, später.«
    »Nein«, sagte sie. Dann umarmte sie ihn. Drückte ihn an sich. Ließ ihn nicht mehr los. Er konnte nicht anders, als ihre Haut zu riechen. Schweiß. Parfüm. Blut vielleicht.
    Er stieß sie weg.
    »Ich bring dich um und mich auch«, sagte er.
    »Wo fahren wir hin?«, fragte sie wieder.
    Er legte den Gang ein und fuhr los.
    Bis sie ankamen, sprach er kein Wort mehr mit ihr. Seine Mutter wachte auf. Und er rückte drei Millimeter weg, damit sie ihn nicht gleich bemerkte.

    Kurz vor der Ausfahrt erschrak er. Was, wenn die beiden nicht verreist waren? Wenn sie krank waren? Oder pleite? Und sich Gomera nicht mehr leisten konnten? Darüber hatte er nicht einen Moment lang nachgedacht. Schon zweimal hatte er im November vor dem Haus gestanden, und niemand war da gewesen. Das Ehepaar verschwand jedes Jahr für fünf oder sechs Monate. Regelmäßig. Ich fahr da hin. Und niemand hindert mich.
    Ich will die Tür aufmachen. Und in diese Wohnung treten. Das will ich! Und das tu ich!
    Auf einmal war Ariane eingeschlafen. Sie hatte sich in ihren Mantel gehüllt, den Kopf abgewandt. Das fand er mutig von ihr. Dann fand er es frech. Und er war kurz davor, sie aufzuwecken und ihr zu verbieten, die Augen zu

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