Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
in jeder Nische ihres Körpers zu lodern. Tränen strömten unter ihren zuckenden Lidern hervor.
Leise schloss Niklas Schilff die Wohnungstür.
Im Dunkeln stieg er, den Müllsack über der Schulter, die Treppe hinunter, den Schlüssel in der Faust versteckt.
Die Welt und er, dachte er, waren nicht mehr dieselben. Womöglich gehörten sie nicht einmal mehr zusammen. Ich verkehrt und die Welt verkehrt. Erklärungen waren sinnlos. Jetzt klaue ich ein Auto. Vorhin habe ich eine Frau geschändet. Nachher werde ich sie entführen und vermutlich töten. So wie mich. Alles ist unwirklich. Alles ist unvermeidlich. Alles ist wahr.
16
I n dieser Nacht, die fast ein Morgen war, kehrte Niklas Schilff als Kind in das Bett seiner Eltern zurück, wo er vor Glück kaum zu atmen wagte. Zuerst war er erschrocken gewesen. Weil er erwachsen war und das Ende kannte. Doch dann, während er nach einem Auto, das er knacken konnte, Ausschau hielt, passierte die Verwandlung wie von selbst. Du schon wieder!, sagte sein Vater, und Niklas wusste, dass er es nicht so meinte. Von seiner Mutter erwartete er kein Wort. Nur ihren Duft. Und er wurde nicht enttäuscht.
Den Müllsack hatte er ein paar Häuser weiter in einen Container geworfen. Dann sah er sich um. Als fühle er sich verfolgt. Was nicht stimmte. Er fühlte sich nicht verfolgt. Er wollte nur nicht gestört werden. Auf dieser Reise, die wie eine Explosion begonnen hatte.
Wie selbstverständlich blieb er vor einem schmutzigen blauen Passat stehen. Er zog das kleine Klappmesser, das er immer bei sich trug, aus der Tasche. Und brauchte keine Minute, um das Türschloss zu öffnen. Roddy, den sie den Click-Crack von Down Town L.A. nannten, hatte ihm einige Tricks gezeigt. Schilff hatte sie gelegentlich ausprobiert, ohne je ein Auto zu stehlen. Die Zündung kurzzuschließen hatte ihm Roddy ebenfalls beigebracht. Die Reportage, die in einem Schweizer Magazin erschienen war, schickte die eidgenössische Polizei an ihre amerikanischen Kollegen. Schilff wurde mehrere Stunden vernommen. Er blieb standhaft. Von mir erfahren die Cops nichts, aus mir kriegen sie Roddys richtigen Namen nicht raus. Informantenschutz!
Er parkte den Wagen vor dem Haus in der Rothmundstraße 6. Ließ den Motor laufen. Öffnete die Haustür mit dem Schlüssel, den er aus der Wohnung mitgenommen hatte, und rannte in den zweiten Stock hinauf.
Er hatte keinen Plan gehabt. Jetzt hatte er einen. Er hatte kein Ziel gehabt. Jetzt hatte er eins. Wie es dazu gekommen war, konnte er nicht erklären.
Er stürmte die Treppe hinauf. Und achtete darauf, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Bruchstückhaft dachte er an alles gleichzeitig. An das, was er gerade tat, was er getan hatte, was er noch tun würde.
Und in einem Anflug gewaltiger Euphorie sperrte er die Wohnungstür auf.
Ariane Jennerfurt kauerte auf dem Boden, an den Heizkörper gefesselt. Bei seinem Anblick war sie fast erleichtert.
Er band sie los und löste die Fesseln. Hob sie hoch. Schob sie in den Flur. Das Klebeband riss er nicht ab.
Sie hätte nicht geschrien.
Dann stand er plötzlich nicht mehr neben ihr. Überrascht drehte sie den Kopf. Ein fürchterlicher Pfeil raste durch ihren Rücken. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Das wollte sie nicht, sie wollte klarsehen. Sie wollte erkennen, was geschah. Ihre Arme wurden hochgerissen.
Er streifte ihr einen Pullover über. Der Pullover war weich. Jetzt umklammerte er ihre Schenkel. Zog das eine, dann das andere Bein nach oben. Und sie brauchte zehn Sekunden, bis sie begriff, dass er ihr eine Hose anzog. Über die Leggings. Er zerrte am Bund. Und knöpfte die Hose zu. Sein Daumen bohrte sich in ihren Bauch. Auf diesen Schmerz kam es nicht mehr an.
Schuhe vor ihrem Gesicht. Durch den Tränenschleier sah sie ein verschwommenes Braun. Sie musste sich bücken. Unmöglich. Hatte er ihren Rücken angezündet?
Sie kippte. Er fing sie auf. Dann sagte er etwas. Sie verstand nicht. Er legte ihren Arm um seine Schulter und griff nach ihrem nackten Fuß. Seltsamerweise spürte sie nichts. Sie band sich den rechten Schuh zu. Dann sackte ihr Bein nach unten. Daraufhin streifte er ihr den anderen Schuh über den linken Fuß. Zubinden musste sie selber. Ohne zu sehen, was sie tat, schaffte sie es.
Wieder sagte er etwas. Wieder hörte sie zu spät hin. Sie waren schon an der Wohnungstür. Da wandte er sich noch einmal um. Blickte zur offenen Schlafzimmertür. Ariane glaubte, er sauge den Jasminduft ein. So wie
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