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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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viel weniger Leute unterwegs, und ich musste meinen Abstand vergrößern.
    Insgesamt folgte ich ihr etwa vierzig Minuten lang. Wir gingen die ruhige Straße entlang, bogen um mehrere Ecken und trafen bald wieder auf die belebte Aoyama-dori. Doch nun schloss sie sich nicht dem Strom der Menge an, sondern ging geradewegs, als hätte sie dies schon die ganze Zeit vorgehabt, in ein kleines Café. Nachdem ich mich etwa zehn Minuten lang unauffällig in der Nähe herumgedrückt hatte, betrat auch ich das Café.
    Ich entdeckte sie sofort. Sie saß mit dem Rücken zur Tür. Der elegante rote Mantel fiel gleich ins Auge. Sie hatte ihn anbehalten, obwohl es ziemlich warm und stickig im Raum war. Ich setzte mich an einen der hinteren Tische und bestellte einen Kaffee. Dann griff ich nach einer herumliegenden Zeitung und hielt sie mir vors Gesicht, während ich zu ihr hinübersah. Auf ihrem Tisch stand eine Tasse Kaffee, doch soweit ich sehen konnte, rührte sie sie nicht an. Einmal nahm sie eine Zigarette aus ihrer Handtasche und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. Ansonsten saß sie nur da und schaute aus dem Fenster. Vielleicht ruhte sie sich einfach aus oder dachte über etwas Wichtiges nach. Während ich meinen Kaffee trank, las ich immer wieder denselben Artikel.
    Nach einer Weile stand sie entschlossen auf und schritt auf meinen Tisch zu. Dies kam so unerwartet, dass mir einen Augenblick lang beinahe das Herz stillstand. Doch sie ging an meinem Tisch vorbei und zum Telefon. Sie warf einige Münzen ein und wählte.
    Das Telefon war nicht weit von meinem Platz entfernt, aber wegen des allgemeinen Stimmgewirrs und der Weihnachtslieder aus den Lautsprechern konnte ich nicht hören, was sie sagte. Sie telefonierte ziemlich lange. Der Kaffee, der noch unberührt auf ihrem Tisch stand, war inzwischen sicher kalt. Als die Frau an mir vorbei zum Telefon gegangen war, hatte ich sie von vorn gesehen; dennoch hätte ich nicht mit Sicherheit sagen können, ob es Shimamoto war. Sie war stark geschminkt, außerdem war nahezu die Hälfte ihres Gesichts von der großen Sonnenbrille verdeckt. Sie hatte ihre Augenbrauen stark nachgezogen und presste die grellrot geschminkten schmalen Lippen fest zusammen. Außerdem waren wir erst zwölf gewesen, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Das war über fünfzehn Jahre her. Zwar erinnerte mich das Gesicht der Frau vage an Shimamoto in ihrer Mädchenzeit, aber wenn man mir gesagt hätte, sie sei jemand völlig anderes, hätte ich es auch akzeptiert. Mit Sicherheit sagen konnte ich nur, dass ich eine attraktive Frau Ende zwanzig in teurer Garderobe vor mir hatte. Und dass sie hinkte.
    Der Schweiß lief an mir hinunter. Mein Unterhemd war klatschnass. Ich zog meinen Mantel aus und bestellte noch einen Kaffee. Ich fragte mich, was ich eigentlich hier tat. Ich war nach Shibuya gefahren, um mir ein Paar neue Handschuhe zu kaufen, weil ich die alten verloren hatte. Doch kaum hatte ich diese Frau gesehen, war ich ihr wie besessen gefolgt. Was wäre natürlicher gewesen, als auf sie zuzugehen und sie anzusprechen: »Entschuldigen Sie, aber heißen Sie möglicherweise Shimamoto?« Doch ich hatte es nicht getan. Stattdessen war ich ihr nachgegangen, ohne etwas zu sagen. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück.
    Als sie zu Ende telefoniert hatte, ging sie zurück an ihren Tisch, setzte sich mit dem Rücken zu mir wieder hin und starrte aus dem Fenster. Die Bedienung kam und fragte, ob sie den kalten Kaffee abräumen dürfe. (Das vermutete ich jedenfalls, auch wenn ich nicht hören konnte, was sie sagte.) Die Frau wandte sich ihr zu und nickte. Offenbar bestellte sie einen frischen Kaffee. Doch auch als dieser ihr gebracht wurde, rührte sie ihn nicht an. Ich tat weiter so, als würde ich Zeitung lesen, während ich immer wieder aufblickte, um sie zu beobachten. Die Frau sah ein paarmal auf ihre silberne Armbanduhr. Sie schien auf jemanden zu warten. Wahrscheinlich war das meine letzte Chance. Falls jetzt jemand kam, wäre die Gelegenheit, sie anzusprechen, vielleicht für immer vorbei. Doch ich schaffte es einfach nicht, aufzustehen. Das wird schon noch, beruhigte ich mich. Nur nichts überstürzen.
    Fünfzehn oder zwanzig Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah. Die Frau starrte die ganze Zeit hinaus auf die Straße. Plötzlich und ohne Vorankündigung erhob sie sich. Sie klemmte sich die Handtasche unter den Arm und griff mit der anderen Hand nach der Tüte. Anscheinend gab sie das Warten auf.

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