Südlich der Grenze, westlich der Sonne
Sie auf, die Dame zu verfolgen. Wir wollen uns doch gegenseitig keine Schwierigkeiten machen, nicht wahr?«
Mit diesen Worten schob er mir den Umschlag zu und stand auf. Er schnappte sich die Rechnung vom Tisch, zahlte und verließ mit großen Schritten das Café. Eine Weile blieb ich wie angewurzelt sitzen und starrte ihm entgeistert hinterher. Schließlich nahm ich den Umschlag und spähte hinein. Er enthielt zehn Zehntausend-Yen-Scheine. Gänzlich unzerknitterte, druckfrische Zehntausender. Mein Mund wurde trocken. Ich steckte den Umschlag in die Manteltasche und verließ das Café. Nachdem ich mich umgeschaut und vergewissert hatte, dass von dem Mann nichts mehr zu sehen war, nahm ich ein Taxi zurück nach Shibuya.
Das war die ganze Geschichte.
Den Umschlag mit den zehn Zehntausendern bewahrte ich unangetastet in einer Schreibtischschublade auf. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, dachte ich häufig an den Mann. Unheilverkündend stieg sein Gesicht vor mir auf. Wer war er? Und diese Frau? War sie Shimamoto?
Später stellte ich eine Anzahl von Vermutungen über mein Erlebnis an. Es war wie ein Puzzle, das nicht aufgehen wollte. Unaufhörlich stellte ich Hypothesen auf, die ich dann wieder verwarf. Am überzeugendsten fand ich die Theorie, dass der Mann der Liebhaber der Frau im roten Mantel war und sie mich für einen von ihrem Ehemann beauftragten Privatdetektiv gehalten hatten. Mit dem Geld wollte der Mann mein Schweigen erkaufen. Vielleicht vermuteten die beiden, ich hätte beobachtet, wie sie aus einem Hotel kamen, in dem sie sich getroffen hatten. Ein solches Szenario war nicht unwahrscheinlich und ergab auch logisch einen Sinn. Aber im Grunde meines Herzens war ich nicht überzeugt. Es blieben zu viele Fragen offen.
Der Mann hatte behauptet, mir alles Mögliche antun zu können, aber was sollte das sein? Und wieso hatte er mich auf diese sonderbare Weise am Arm gepackt? Warum hatte die Frau nicht gleich ein Taxi genommen, als ihr klar wurde, dass ich sie verfolgte? Dann wäre sie mich sofort los gewesen. Weshalb hatte der Mann mir die Summe von hunderttausend Yen gegeben, ohne sich zu überzeugen, wer ich überhaupt war?
Sosehr ich mir auch den Kopf zerbrach, die Sache blieb mir ein Rätsel. Mitunter fragte ich mich, ob mein Erlebnis ein Produkt meiner Fantasie gewesen sein konnte. Ob ich mir die ganze Geschichte von Anfang bis Ende eingebildet hatte. Vielleicht handelte es sich auch um einen sehr realistischen Traum, der sich im Gewand der Wirklichkeit in meinem Kopf festgesetzt hatte. Doch in meiner Schublade lag der weiße Umschlag mit den zehn Zehntausend-Yen-Scheinen. Er war der Beweis dafür, dass alles wirklich und wahrhaftig geschehen war. Es war wirklich passiert. Hin und wieder legte ich den Umschlag auf meinen Schreibtisch und betrachtete ihn lange. Es war wirklich passiert.
7
Mit dreißig heiratete ich. Ich hatte meine Frau kennengelernt, als ich in meinem Sommerurlaub allein verreist war. Sie war fünf Jahre jünger als ich. Ich ging auf einem Feldweg spazieren, als es plötzlich anfing, heftig zu regnen, und ich mich in einen Unterstand flüchtete, in dem sie und ihre Freundin ebenfalls Schutz suchten. Alle drei waren wir nass bis auf die Haut. Wir kamen ins Gespräch, und als der Regen endlich nachließ, hatten wir uns angefreundet. Hätte es nicht geregnet oder hätte ich einen Schirm dabei gehabt (was durchaus möglich gewesen wäre, denn ich hatte beim Verlassen des Hotels in Erwägung gezogen, einen mitzunehmen), wäre ich ihr nie begegnet. Dann würde ich noch immer im Schulbuchverlag arbeiten und abends an die Wand meines Wohnzimmers gelehnt dasitzen, Selbstgespräche führen und mich betrinken. Sooft ich daran denke, wird mir bewusst, wie eng die Grenzen der Möglichkeiten sind, in denen wir leben.
Yukiko (so ihr Name) und ich fühlten uns auf den ersten Blick zueinander hingezogen. Ihre Freundin war eigentlich im herkömmlichen Sinne attraktiver, aber ich hatte von Anfang an nur Augen für Yukiko. Wir fühlten uns heftig, in fast irrationaler Weise zueinander hingezogen. Seit Langem einmal wieder verspürte ich diesen Sog. Da sie ebenfalls in Tokio wohnte, trafen wir uns auch nach der Reise. Je öfter wir uns sahen, desto mehr empfand ich für sie. Eigentlich sah sie eher durchschnittlich aus. Zumindest war sie nicht der Typ, dem die Männer in Scharen nachlaufen. Aber in ihrem Gesicht war eindeutig etwas, das nur für mich bestimmt war. Mir gefiel ihr Gesicht. Immer wenn
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