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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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machen, aber ich lehnte unter einem passenden Vorwand ab. Ich hätte eigentlich nichts dagegen gehabt, das Mädchen wiederzusehen. Ehrlich gesagt hätte ich mich sogar ganz gern weiter mit ihr unterhalten. Unter anderen Umständen hätten wir uns vielleicht sogar angefreundet. Leider hatten wir uns bei einem Doppel-Date kennengelernt, das schließlich der Partnersuche diente. Verabredete man sich also ein zweites Mal mit jemandem, ergab sich bereits eine gewisse Verpflichtung daraus. Das Letzte, was ich wollte, war, die Gefühle dieses Mädchens zu verletzen. So blieb mir nichts anderes übrig, als abzusagen. Natürlich sah ich sie nie wieder.

6
    Als ich achtundzwanzig war, hatte ich ein weiteres Erlebnis mit einer gehbehinderten Frau. Diese Begebenheit war so sonderbar, dass ich mir noch immer keinen rechten Reim darauf machen kann.
    Gegen Ende des Jahres fiel mir im Feiertagsgewimmel von Shibuya eine Frau auf, die ihr Bein exakt auf dieselbe Weise nachzog wie Shimamoto. Sie trug einen langen roten Mantel, und unter einem Arm klemmte eine schwarze Lackhandtasche. Ihr linkes Handgelenk zierte eine silberne Uhr, die wie ein Armband wirkte. Alles an dieser Frau sah elegant und teuer aus. Ich befand mich auf der anderen Straßenseite, aber als ich sie entdeckte, ging ich an der nächsten Ampel rasch hinüber. Es war so voll, dass ich mich fragte, woher nur all die Leute kamen. Dennoch brauchte ich nicht lange, um die Frau einzuholen, die wegen ihres Beins nicht schnell vorankam. Ihre Art sich zu bewegen hatte große Ähnlichkeit mit jener Shimamotos, wie ich sie im Gedächtnis hatte. Wie Shimamoto zog auch diese Frau ihr Bein mit einer leichten Drehung nach. Meinen Blick stetig auf den anmutigen Schwung gerichtet, den sie mit ihrem schönen bestrumpften Bein beschrieb, folgte ich ihr. Sie besaß eine Grazie, wie sie nur jahrelange Übung und Disziplin hervorbringen kann.
    Eine Weile ging ich ihr in geringem Abstand nach, was nicht so einfach war, weil die Menge in einer anderen Geschwindigkeit an mir vorbeiströmte. Also blieb ich hin und wieder stehen, betrachtete ein Schaufenster oder gab vor, etwas in meinen Manteltaschen suchen, um mein Tempo dem ihren anzupassen. Sie trug schwarze Lederhandschuhe und in der freien Hand eine rote Papiertüte aus einem Kaufhaus. Ungeachtet des wolkigen Wintertages hatte sie eine große Sonnenbrille auf. Richtig sehen konnte ich von hinten nur ihr schönes Haar (schulterlang, elegant nach außen gerollt) und den Rücken ihres offensichtlich weichen und warmen roten Mantels. Natürlich wollte ich mich überzeugen, ob es wirklich Shimamoto war, was an sich nicht so schwierig gewesen wäre. Ich brauchte nur um sie herum zu gehen und ihr ins Gesicht zu schauen. Doch was sollte ich sagen, falls sie es wirklich war? Wie sollte ich mich verhalten? Vielleicht erinnerte sie sich nicht einmal mehr an mich. Ich brauchte Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Ich atmete tief ein und aus und straffte meine Schultern.
    Ich folgte ihr noch eine Weile, indem ich darauf achtete, sie nicht versehentlich zu überholen. Während der ganzen Zeit wandte sie sich nicht um und blieb auch nicht stehen oder ließ ihre Blicke schweifen. Offensichtlich hatte sie ein bestimmtes Ziel und wollte möglichst zügig dorthin gelangen. Wie Shimamoto ging sie sehr gerade und mit erhobenem Kopf. Wer sie nur von der Hüfte aufwärts betrachtete, merkte vermutlich nicht einmal, dass sie hinkte. Sie ging nur etwas langsamer als die meisten Leute. Je länger ich sie beobachtete, desto mehr erinnerte sie mich an Shimamoto. Ihre Art zu gehen war identisch.
    Die Frau drängte sich durch das Gewühl vor dem Bahnhof Shibuya und schritt den Hang in Richtung Aoyama hinauf. Sie ging jetzt noch langsamer. Inzwischen hatte sie schon eine recht weite Strecke zurückgelegt. Es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, ein Taxi zu nehmen. Selbst für jemanden, der keine Behinderung hatte, war es ein anstrengender Weg. Doch sie hinkte immer weiter voran, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben. Auch die Schaufenster würdigte sie keines Blickes. Ich folgte ihr in angemessenem Abstand. Mehrmals wechselte sie die Tüte und die Handtasche von einer Hand in die andere. Doch abgesehen davon ging sie unbeirrt weiter.
    Irgendwann verließ sie die belebte Hauptstraße und bog in eine kleinere Straße ein. Offenbar kannte sie sich gut aus in der Gegend. Kaum hatte man das Einkaufsviertel hinter sich gelassen, kam man in ein ruhiges Wohngebiet. Hier waren

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