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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ersticken. Ich hatte das Gefühl, immer mehr zu schrumpfen, bis ich eines Tages ganz verschwunden wäre.«
    Ich nahm einen Schluck von meinem Cocktail und schaute mich um. Dafür, dass es regnete, war es ziemlich voll. Der Saxofonist war gerade dabei, sein Instrument einzupacken. Ich rief einen Kellner und sagte, er solle dem Mann eine Flasche Whiskey bringen und fragen, ob er gern etwas essen würde.
    »Aber hier ist es anders. Hier würde ich ohne meine Kreativität gar nicht überleben. Hier kann ich alles, was mir einfällt, sofort in die Praxis umsetzen. Hier gibt es keine Sitzungen und keine Vorgesetzten. Keine Vorlagen und keine Richtlinien vom Kultusministerium. Shimamoto, das ist herrlich. Hast du schon einmal in einer Firma gearbeitet?«
    Shimamoto schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein.«
    »Du Glückliche. In einer Firma angestellt zu sein, liegt mir überhaupt nicht. Dir bestimmt auch nicht. Ich habe acht Jahre lang in diesem Verlag gearbeitet, also muss ich es wissen. Meine besten Jahre habe ich dort vergeudet. Ich weiß gar nicht, wie ich das ausgehalten habe. Allerdings hätte ich vielleicht ohne diese acht Jahre nicht solchen Erfolg mit dem, was ich tue. Jetzt liebe ich meine Arbeit. Mitunter kommen mir meine Bars vor wie Orte, die ich erfunden habe. Gärten aus Luft, in denen ich Blumen pflanze und Springbrunnen errichte. Ich statte sie sehr sorgfältig und wirklichkeitsnah aus. Menschen kommen dorthin, trinken, hören Musik, unterhalten sich und gehen wieder. Warum, glaubst du, kommen so viele Menschen Abend für Abend her und geben so viel Geld aus, um hier etwas zu trinken? Weil jeder mehr oder weniger auf der Suche nach einem fiktiven Ort ist. Weil sie in meine raffiniert und kunstvoll angelegten Gärten aus Luft eintauchen wollen.«
    Shimamoto zog eine Schachtel Salems aus einer kleinen Tasche. Bevor sie nach ihrem Feuerzeug greifen konnte, riss ich ein Streichholz an und gab ihr Feuer. Es gefiel mir, ihr Feuer zu geben. Es gefiel mir, wie ihre Augen sich verengten und die Flamme sich flackernd darin spiegelte.
    »Ehrlich gesagt habe ich noch nie in meinem Leben gearbeitet«, sagte sie.
    »Noch nie?«
    »Nein, weder zur Aushilfe noch fest angestellt. Ich habe keinerlei Erfahrung mit Arbeit. Es macht mich fast neidisch, dir zuzuhören. Gedanken, wie du sie beschreibst, sind mir unbekannt. Ich war immer allein und habe gelesen. Wenn ich überhaupt an Geld denke, dann höchstens daran, es auszugeben, und nicht, es zu verdienen«, sagte sie und streckte mir ihre Arme entgegen. Am rechten Handgelenk trug sie zwei schmale Armreifen aus Gold und am linken eine wertvolle goldene Uhr. Sie streckte mir ihre Arme eine ganze Weile entgegen, als würde sie mir Warenproben zeigen. Ich ergriff ihre rechte Hand und betrachtete die Armreifen. Mir fiel ein, dass sie mit zwölf Jahren einmal meine Hand genommen hatte. Ich erinnerte mich noch immer lebhaft an das Gefühl von damals. Daran, wie sehr es mein Herz in Aufruhr versetzt hatte.
    »Vielleicht ist es am ehrlichsten, nur darüber nachzudenken, wie man das Geld ausgibt«, sagte ich. Als ich ihre Hand losließ, hatte ich das Gefühl, jeden Moment davonschweben zu können. »Wenn man nur ans Geldverdienen denkt, nutzt sich vieles ab. Man wird verschlissen, ohne es zu merken.«
    »Aber du verstehst nicht, welche Leere es bedeutet, nie etwas hervorzubringen.«
    »Aber so ist es doch gar nicht. Du bringst vieles hervor.«
    »Was zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel Dinge, die keine Form haben.« Ich sah auf meine Hände, die auf meinen Knien ruhten.
    Ihr Glas in der Hand, sah Shimamoto mich lange an. »So etwas wie Gefühle?«
    »Ja«, sagte ich. »Alles vergeht irgendwann. Auch diese Bar wird nicht ewig Bestand haben. Die Vorlieben der Menschen sind wandelbar. Die Wirtschaftslage braucht sich nur ein wenig zu ändern, und im Nu ist sie verschwunden. Ich habe das immer wieder gesehen. Es passiert ganz leicht. Alles, was Form hat, vergeht. Aber gewisse Gedanken bleiben für immer.«
    »Aber es sind nur die bitteren Gedanken, die bleiben. Findest du nicht auch, Hajime?«
    Der Saxofonist kam zu mir und bedankte sich für den Whiskey. Ich dankte ihm für seinen Auftritt.
    »Die heutigen Jazzmusiker sind sehr korrekt«, erklärte ich Shimamoto. »In meiner Studentenzeit war das ganz anders. Alle nahmen Drogen, und die Hälfte war unberechenbar und unzuverlässig. Aber ab und zu konnte man umwerfende Auftritte erleben. Früher bin ich gern durch die Jazzclubs in Shinjuku

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