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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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haben könnte, etwas Achtloses, mit dem ich sie verletzt hatte. Ich ließ mir jedes Wort, das ich an dem Abend gesagt hatte, durch den Kopf gehen und grübelte auch über ihre Antworten nach. Aber mir fiel nichts ein. Oder unser Wiedersehen hatte Shimamoto doch enttäuscht. Das war durchaus möglich. Sie war so wunderschön und hinkte auch nicht mehr. Vielleicht konnte sie nichts mehr an mir finden, was für sie von Bedeutung war.
    Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Weihnachten war vorbei, und das neue Jahr begann. Und plötzlich war auch der Januar vorüber. Ich wurde siebenunddreißig. Ich beschloss, das Warten aufzugeben. Ich ließ mich nur noch selten im Robin’s Nest blicken. Wenn ich dort war, dachte ich unweigerlich an Shimamoto und suchte zwischen den Gästen nach ihr. Ich saß dann an der Bar, schlug ein Buch auf und gab mich ziellosen Gedanken hin. Es fiel mir immer schwerer, mich zu konzentrieren.
    Sie hatte gesagt, ich sei der einzige Freund, den sie in ihrem ganzen Leben gehabt habe. Darüber war ich sehr glücklich. Ich hatte gehofft, wir könnten wieder Freunde werden. Ich hatte ihr so vieles zu sagen, wollte ihre Meinung zu so vielen Dingen hören. Wenn sie nicht über sich sprechen wollte, konnte ich damit leben. Sie einfach nur zu sehen und mit ihr zu reden, hätte mich überglücklich gemacht.
    Doch Shimamoto ließ sich nicht mehr blicken. Vielleicht war sie auch so beschäftigt, dass sie nicht kommen konnte. Aber drei Monate waren einfach zu lang. Selbst wenn es ihr an der Zeit fehlte, hätte sie doch zumindest anrufen können. Schließlich glaubte ich, sie hätte mich vergessen. Offenbar bedeutete ich ihr doch nicht so viel. Der Gedanke schmerzte mich. Es fühlte sich an, als hätte sich in meinem Herzen ein kleines Loch aufgetan. Sie hätte diese Dinge besser nicht gesagt. Gewisse Worte setzten sich für immer im Herzen eines Menschen fest.
    Anfang Februar jedoch kam sie. Wieder war es ein regnerischer Abend. Es war ein lautloser, eisiger Regen. Ich hatte an diesem Abend zufällig etwas im Robin’s Nest zu erledigen und war schon früh dort. Es roch nach den vom kalten Regen triefenden Schirmen der Gäste. An diesem Abend wurde unser Klaviertrio von einem bekannten Tenorsaxofonisten begleitet. Er spielte mehrere Nummern, und das Publikum war begeistert. Ich saß in meiner üblichen Ecke an der Bar und las, als Shimamoto sich lautlos auf den Platz neben mir setzte.
    »Guten Abend«, sagte sie.
    Ich legte das Buch aus der Hand und sah sie an. Ich konnte kaum glauben, dass sie es wirklich war.
    »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Bist du mir böse?«
    »Nein«, sagte ich. »Wegen so was bin ich doch nicht böse. Das hier ist eine Bar. Meine Gäste können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Ich warte nur auf sie.«
    »Trotzdem, entschuldige. Ich kann dir den Grund nicht sagen, nur dass ich verhindert war.«
    »Hattest du viel zu tun?«
    »Nein«, sagte sie ruhig. »Daran lag es nicht. Ich konnte einfach nicht kommen.«
    Ihr Haar war feucht vom Regen. Einige Strähnen klebten auf ihrer Stirn. Ich ließ ihr von einem Ober ein frisches Handtuch bringen.
    Sie bedankte sich und trocknete sich das Haar. Dann zog sie eine Zigarette hervor und zündete sie mit ihrem Feuerzeug an. Ihre vom Regen nassen Finger zitterten ein wenig. Offenbar war ihr kalt.
    »Es nieselt«, sagte sie. »Eigentlich wollte ich ein Taxi nehmen und bin nur im Regenmantel aufgebrochen, aber dann bin ich doch weiter zu Fuß gegangen.«
    »Möchtest du etwas Heißes trinken?«, fragte ich.
    Shimamoto sah mir in die Augen und lächelte. »Danke, aber das ist nicht nötig.«
    Als ich ihr Lächeln sah, waren die drei Monate, in denen sie nicht gekommen war, im Nu vergessen.
    »Was liest du da?« Sie deutete auf mein Buch.
    Ich zeigte es ihr. Es behandelte die Geschichte des chinesisch-vietnamesischen Grenzkonflikts nach dem Vietnamkrieg. Sie blätterte darin und gab es mir zurück.
    »Liest du keine Romane mehr?«
    »Doch, aber nicht mehr so viele wie früher. Und neue Romane lese ich gar nicht. Nur die alten. Überwiegend aus dem 19.   Jahrhundert. Welche, die ich früher schon gelesen habe.«
    »Warum liest du keine neuen?«
    »Vielleicht will ich nicht enttäuscht werden. Wenn ich ein langweiliges Buch lese, habe ich das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Und das frustriert mich. Früher war das anders. Ich hatte viel Zeit, und selbst wenn ich etwas langweilig fand, glaubte ich, es käme

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