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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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auf die eine oder andere Weise doch etwas dabei heraus. Aber jetzt halte ich es nur noch für reine Zeitverschwendung. Wahrscheinlich werde ich einfach älter.«
    »Älter bist du auf jeden Fall geworden«, sagte sie und lächelte schelmisch.
    »Liest du noch viel?«
    »Ja, die ganze Zeit. Neues und Altes. Romane und Sachbücher. Langweiliges und Spannendes. Im Gegensatz zu dir mag ich es, meine Zeit mit Lesen totzuschlagen.«
    Sie bestellte einen Robin’s Nest. Ich nahm auch einen. Sie nahm einen Schluck von ihrem Cocktail, nickte kurz und stellte ihn auf den Tresen.
    »Wieso schmecken mir die Cocktails in deiner Bar besser als irgendwo anders?«
    »Weil wir uns so viel Mühe geben«, sagte ich. »Ohne Schweiß kein Preis.«
    »Und wie sieht diese Mühe aus?«
    »Wie er zum Beispiel«, sagte ich und deutete auf den gutaussehenden jungen Bartender, der gerade mit ernster Miene Eis zerhackte. »Ich zahle ihm ein königliches Gehalt. Alle wären erstaunt, wie viel es ist. Allerdings halte ich es vor den anderen Angestellten geheim. Ich bezahle ihm so viel, weil er das Talent besitzt, die köstlichsten Cocktails zu machen. Es ist vielleicht nicht allgemein bekannt, aber ohne dieses Talent kann man keine schmackhaften Cocktails mixen. Natürlich kann jeder mit etwas Mühe recht gute Ergebnisse erzielen. Mit ein paar Monaten Übung bekommt man schon etwas hin, mit dem man sich nicht vor den Gästen blamiert. Die meisten Bars servieren ganz passable Cocktails. Damit kommt man natürlich auch über die Runden. Aber wer mehr will, braucht ein besonderes Talent. Es ist wie beim Klavierspielen, beim Malen oder beim Hundertmeterlauf. Ich bringe selbst ganz gute Cocktails zustande. Ich habe viel probiert und geübt. Aber mit ihm kann ich nicht mithalten, auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Wenn ich die gleichen Zutaten gleich lange im gleichen Shaker schüttele, schmeckt der Cocktail anders. Warum, weiß ich nicht. Es liegt nur am Talent. Es ist wie in der Kunst. Es gibt eine Grenze, und es gibt Menschen, die sie überschreiten können, und Menschen, die es nicht können. Wenn man also einmal so ein Talent entdeckt hat, sollte man es schätzen und sich nie von ihm trennen. Und ihm ein hohes Gehalt zahlen.« Der Bartender war homosexuell, weshalb mitunter Schwule in die Bar kamen, aber es waren ruhige Zeitgenossen, und sie störten mich nicht. Ich mochte den jungen Mann. Er vertraute mir und arbeitete gut.
    »Anscheinend hast du mehr Talent zum Geschäftsmann, als man dir ansieht?«, fragte Shimamoto.
    »Weit gefehlt«, sagte ich. »Ich bin kein Unternehmer. Ich habe nur zwei bescheidene Bars. Mehr will ich auch nicht. Ich bin nicht darauf aus, mehr Gewinn zu machen. Von Talent kann keine Rede sein. Aber wenn ich Zeit habe, denke ich natürlich nach. Wie würde ich mich als Gast verhalten? Mit wem würde ich in welche Bar gehen? Was würde ich essen oder trinken? Welche Bar würde ich bevorzugen, wenn ich ein junger Single von Mitte zwanzig wäre, der ein Mädchen ausführen will? Dann stelle ich mir die Situation in allen Einzelheiten vor. Wie viel kann ich ausgeben? Um wie viel Uhr müssen wir gehen, wenn sie da und da wohnt? Ich denke mir konkrete Fälle aus. Dabei nimmt das Bild von der Bar, das ich vor Augen habe, immer klarere Formen an.«
    Shimamoto trug an diesem Abend einen hellblauen Rollkragenpullover und einen dunkelblauen Rock. Ihre kleinen Ohrringe blitzten. Unter dem dünnen Pullover zeichneten sich ihre schön geformten Brüste ab. Bei ihrem Anblick fiel mir das Atmen schwer.
    »Sprich weiter«, sagte sie. Das vertraute Lächeln trat wieder auf ihre Lippen.
    »Worüber?«
    »Über deine Geschäftsstrategie«, sagte sie. »Es gefällt mir, dir zuzuhören, wenn du über solche Dinge sprichst.«
    Ich errötete ein wenig. Ich war schon sehr lange nicht mehr rot geworden. »Eine Strategie kann man das eigentlich nicht nennen. Weißt du, Shimamoto, ich tue nur, was ich schon immer getan habe. Ich denke mir etwas aus. Lasse meine Fantasie schweifen. Wie schon als Kind. Ich erschaffe einen fiktiven Ort und statte ihn nach und nach mit Details aus. Dieses würde gut hierherpassen, jenes sollte man lieber ändern. Es ist eine Art Simulation. Ich habe dir ja erzählt, dass ich nach dem Studium lange in diesem Schulbuchverlag gearbeitet habe. Ich langweilte mich fast zu Tode. Wahrscheinlich, weil ich meine Vorstellungskraft nicht einsetzen konnte. Es war mir ein Gräuel, in den Verlag zu gehen. Es war, als würde ich

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