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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gezogen, auf der Suche nach bahnbrechenden Erlebnissen.«
    »Du magst diese Art von Menschen, nicht wahr, Hajime?«
    »Wahrscheinlich«, sagte ich. »Die Menschen sind doch immer auf der Suche nach etwas Außergewöhnlichem. Neun von zehn suchen die ultimative Erfahrung. Das hält die Welt in Bewegung. Ich glaube, das ist Kunst.« Wieder starrte ich auf meine Hände, die auf meinen Knien lagen. Dann schaute ich auf und sah Shimamoto an. Sie wartete darauf, dass ich weitersprach.
    »Aber jetzt ist es anders, denn ich bin Inhaber einer Bar. Ich investiere und profitiere. Ich bin kein Künstler. Und ich produziere auch nichts. Nicht, dass ich hier die Künste besonders fördere. Ob es mir gefällt oder nicht, das ist nicht der Zweck meiner Bar. Für den Inhaber ist es leichter, mit anständigen und korrekten Musikern umzugehen. So ist es eben. Die Welt muss ja nicht aus lauter Charlie Parkers bestehen.«
    Shimamoto bestellte sich einen weiteren Cocktail und zündete sich eine neue Zigarette an. Wir schwiegen. Sie schien in Gedanken versunken. Ich lauschte dem langen Solo des Bassisten in »Embraceable You«. Der Pianist schlug hin und wieder einen begleitenden Akkord an, der Schlagzeuger trocknete sich den Schweiß ab und nahm einen Schluck von seinem Drink. Ein Stammkunde sprach mich an, und wir unterhielten uns kurz.
    »Hajime«, sagte Shimamoto endlich. »Kennst du vielleicht einen Fluss? Einen schönen Fluss in einem Tal, nicht zu breit und nicht zu träge, der durch Felder fließt und bald ins Meer mündet? Am besten mit einer raschen Strömung.«
    Ich sah sie erstaunt an. »Einen Fluss?« Ich verstand nicht recht, was sie von mir erwartete. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Sie sah mich ruhig an, als würde sie eine Landschaft betrachten, die in weiter Ferne lag. Mir war, als existierte ich an einem Ort sehr weit fort von ihr. Vielleicht trennten uns unvorstellbare Distanzen. Bei diesem Gedanken konnte ich mich einer gewissen Traurigkeit nicht erwehren. Es war etwas in ihren Augen, das diese Traurigkeit in mir hervorrief.
    »Wie kommst du plötzlich darauf?«, fragte ich.
    »Das ist mir gerade so eingefallen«, sagte Shimamoto. »Und ich dachte, ich frage dich. Kennst du denn einen solchen Fluss?«
    In meiner Studentenzeit war ich viel allein mit dem Rucksack herumgereist und kannte alle möglichen Flüsse in Japan. Aber einer, wie der, den sie suchte, wollte mir nicht gleich einfallen.
    »Ich glaube, am Japanischen Meer gibt es einen solchen Fluss«, sagte ich, nachdem ich eine Zeit lang nachgedacht hatte. »Sein Name fällt mir nicht mehr ein. Aber ich glaube, er liegt in der Präfektur Ishikawa. Ich könnte ihn wiederfinden. Ich glaube, er kommt deiner Beschreibung ziemlich nah.«
    Ich konnte mich noch gut an diesen Fluss erinnern. Es war in den Herbstferien meines zweiten oder dritten Studienjahres gewesen. Das Herbstlaub war herrlich, und die umliegenden, bis ans Meer reichenden Berge erschienen wie in Blut getaucht. Der Lauf des Flusses war wunderschön, und aus dem Wald ertönten hin und wieder die Rufe von Hirschen. Der Flussfisch, den ich dort gegessen hatte, war köstlich gewesen.
    »Würdest du mich dorthin begleiten?«, fragte Shimamoto.
    »Aber er ist in Ishikawa«, sagte ich mit rauer Stimme. »Enoshima ginge ja noch. Nach Ishikawa müssten wir fliegen und dann noch mindestens eine Stunde mit dem Wagen fahren. Übernachten müssten wir auch, und du kannst sicher verstehen, dass das bei mir im Augenblick nicht geht.«
    Shimamoto drehte sich langsam auf ihrem Hocker zu mir und sah mich an. »Hajime, ich weiß, es ist nicht richtig von mir, dich um einen so großen Gefallen zu bitten. Aber ich habe sonst niemanden. Ich muss unbedingt dorthin, aber ich möchte nicht allein fahren. Und außer dir kann ich niemanden fragen.«
    Ich sah Shimamoto in die Augen. Sie waren wie eine tiefe Quelle, die im Schutz eines Felsens lag, wo sie kein Windhauch je erreichte. Nichts regte sich darin, alles war absolut still. Wenn man lange hineinsah, konnte man die Bilder unterscheiden, die sich in der Wasseroberfläche spiegelten.
    »Entschuldige.« Sie lachte, als sei plötzlich alle Kraft aus ihr gewichen. »Aber eigentlich bin ich nicht hergekommen, um dich das zu fragen. Ich wollte dich einfach sehen und mit dir reden. Ich hatte gar nicht die Absicht, dieses Thema anzuschneiden.«
    Ich überschlug rasch, wie viel Zeit wir brauchen würden. »Wenn wir sehr früh morgens aufbrechen, könnten wir am selben Tag hin- und

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