Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Steuer. Seit fünf Uhr morgens ist sie auf den Beinen, weil sie wie jeden Morgen joggen war, und den restlichen Tag ist sie hinter den Kindern hergerannt, hat sich mit Truman gestritten, den Wocheneinkauf erledigt, ihren anstrengenden Stretchingkurs absolviert und ist von Haustür zu Haustür gelaufen, um die Kuchen abzuholen, die ihre Freundinnen in Abilene für das Kirchweihfest gebacken haben.
Sie schnuppert den Duft nach Äpfeln, roten Früchten und Schokolade, der mit der Zahl der Kuchen, die sie auf der Ladefläche ihres Kombis gestapelt hat, immer stärker wurde und jetzt das ganze Innere des Wagens erfüllt. Die Cremetorten stehen auf der Rückbank. Sie hat die Runde bei ihrer besten Freundin beendet, Abby Galloway, die ihren berühmten Cremeauflauf gespendet hat. Er steht jetzt unter einem Tuch auf dem Beifahrersitz, und seither kämpft Wendy gegen die Verlockung, einen Finger hineinzutauchen. Die Versuchung hat in dem Moment eingesetzt, als sie den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hat und der Cremeduft ihr in die Nase stieg. Was für ein köstlicher Geruch. Nicht nur verlockend: unwiderstehlich. Hundert Mal hat sie versucht, dieses kulinarische Wunder zu reproduzieren. Sie hat es mit unterschiedlichen Dosierungen und Backzeiten versucht – vergeblich. Dieser Auflauf ist der Grund, weshalb Wendy ihre Freundin so oft besucht: um endlich ihr verdammtes Geheimnis zu lüften.
Wendy dreht den Kopf zum Gegenstand ihrer Begierde. Sie fährt mit einem Finger unter das Tuch, tunkt ihn in die Cremeschicht und führt ihn zum Mund. Sie seufzt. Sie könnte schwören, dass ein Hauch Kardamom dabei ist. Auch eine Prise Kreuzkümmel und Vanillezucker. Wendy glättet die Kuhle in der Creme und lächelt selig. Das Schreckliche an Abbys Cremeauflauf ist, dass der zweite Bissen mindestens so überwältigend ist wie der erste. Manchmal sogar besser. Wendy setzt sich aufrecht hin. Ein langes Transparent am Gitterzaun der Kirche verkündet das bevorstehende Ereignis:
Grosse Kirchweih in Ewiger Güte. Jedes verkaufte Stück Kuchen nährt einen Armen.
Sie winkt Pfarrer Bigelow zu, der ihr Lächeln erwidert. Manchmal könnte sie schwören, dass der Pfarrer sie nicht mit Priesteraugen ansieht, sondern mit dem Blick eines Mannes. Sie begrüßen sich mit Händedruck. Schon mehrmals hatten sie einander beinahe auf die Wangen geküsst, doch unwillkürlich immer wieder davon Abstand genommen. Auch auf die Gefahr hin, dass man sich in ganz Abilene die Mäuler zerrisse, gäbe Wendy viel darum, als einziges Mitglied der Gemeinde von Pfarrer Bigelow auf die Wange geküsst worden zu sein.
»Na, Wendy, wie ist die Kuchenernte ausgefallen?«
»Wie immer: Gutes und weniger Gutes.«
»Ich bin sicher, es wird alles perfekt sein.«
»Für Sie ist immer alles perfekt, Hochwürden.«
Wendy und Pfarrer Bigelow gehen den Weg zur Kirche entlang. Die Ehrenamtlichen haben bereits die Tische mit großen Baumwolltüchern gedeckt. In Karaffen wird Zitronenlimonade und Sodawasser mit Eis gebracht. Aus dem Augenwinkel überwacht Wendy, wie ihre Lieferung ausgepackt wird.
»Oh, übrigens!«, sagt sie zu Pfarrer Bigelow. »Wissen Sie, was uns das kleine Miststück Ornella auch dieses Jahr wieder angetan hat?«
»Nein?«
»Hohle Kastenkuchen.«
»Die mit den Dörrfrüchten?«
»Ja, und die Früchte dermaßen gedörrt, dass sie sich in der Kehle verklemmen und wahrscheinlich Erstickungstode nach sich ziehen.«
Der junge Pfarrer hebt die Alufolie über Ornellas Kuchen hoch. Er wiegt einen Kuchen mit der Hand ab und sagt: »Sie haben wohl recht: hohl.«
»Sehen Sie! Wenn wir diese Kuchen an die Armen unserer Pfarrei verteilen, werden sie sich wohl kaum beschweren, aber es sind immerhin unsere Gemeindemitglieder.«
Wendy fliegt von Tisch zu Tisch und stülpt Plastikglocken über die Kuchen, um sie vor den Beinen und Fresszangen der Wespen zu schützen. Sie kontrolliert die Preisschildchen vor jedem Kuchen, korrigiert das eine oder andere, bringt vor Abbys Cremeauflauf diskret den Aufkleber »verkauft« an.
»Wie war Ihr Urlaub in Mexiko?«, fragt Pfarrer Bigelow in heiterem Ton.
»Mörderische Hitze, keine Klimaanlage in den Schlafzimmern, ein schrecklich gefährlicher Pool und abgesehen davon: Tequila, Musik und Mädchen mit Dekolletés bis zum Bauchnabel.«
Der Pfarrer legt der jungen Frau eine Hand auf die Schulter.
»Was ist los, Wendy? Sie wirken erschöpft.«
»Ich bin nicht erschöpft, Hochwürden, ich bin verbraucht. Verstehen
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