Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
da. Ich nahm die Sonnenbrille ab und ging auf ihn zu. Er blickte auf, sah mich an. Ich bat ihn um Feuer, und er reichte mir sein Feuerzeug. Ich zündete mir die Zigarette an und sah, dass er mich wirklich nicht erkannte. Er wusste überhaupt nicht, wer ich bin.«
Wendy bohrt beide Zeigefinger in die Augenwinkel, um die Tränen zurückzuhalten.
»Das tut mir sehr leid, Wendy.«
»Daraufhin hatte ich die Idee, ihn zu verführen, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen. Ich ging auf die Toilette, um mich zu schminken. Ich habe immer sehr gut ausgesehen, wissen Sie? Und an dem Tag war ich – wie soll ich sagen?«
»Strahlend?«
Wendy nickt.
»Ich kam auf die Terrasse zurück, und Peter lächelte mich an. Aber dass sein Lächeln nicht mir galt, merkte ich, als ich die blonde Frau sah, die auf ihn zuging. Sie machte einen Bogen um mich auf ihn zu, und sie küssten sich auf den Mund. Ach, wenn Sie das gesehen hätten, diesen Kuss. Diese Zärtlichkeit lügt nicht, nie.«
»Und dann?«
»Hab ich sie miteinander davongehen sehen. Ich beobachtete sie, solang es ging, schaute von außen in diese Glücksblase hinein, in der kein Platz für mich war. In dem Moment, als sie ins Auto stiegen, strich sich die Frau die Haare zurück, und ich weiß noch, dass ich ihr von ganzem Herzen den Tod wünschte.«
»Warum?«
»Weil sie viel hübscher ist als ich.«
Wendy weint jetzt. Dass ihr die Wimperntusche über die Wangen läuft, ist ihr egal. Pfarrer Bigelow beugt sich vor und ergreift sanft ihre Hand.
»Sie Ärmste. Und deshalb haben Sie jetzt das Gefühl, dass Sie Ihr ganzes Leben nicht mehr ertragen?«
»Ja. Denn jetzt ist Peter wieder ins Leben zurückgekehrt, und ich muss ihn unbedingt finden, bevor es zu spät ist.«
40
Leise raschelt der Wind in den Brennnesseln. Die Sonne sinkt. Die Hitze lässt nach. Peter spürt Wendys Hand, ganz zart, ganz sanft. Ihre Lippen sind warm und süß. Durch das Dornendickicht tönt Howards Stimme: »Was treibt ihr da, Scheiße! Wollt ihr uns auffliegen lassen oder was?«
Peter umarmt Wendy.
»Heute Nacht hol ich dich ab, und wir gehen nach Mexiko.«
Er spricht es spanisch aus. »Mechiko«, sagt er.
»Und was sollen wir dort?«
»Weiß ich nicht, aber das sehen wir dann schon.«
Wendy nickt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als Peter ihre Hand loslässt. Sie geht auf einem anderen Weg davon, zurück in den Innenhof, wo sich die Jungen und Mädchen wieder im Quadrat aufstellen müssen, bevor sie für die Nacht in ihre Quartiere zurückkehren. Als Redemption ein Kriegsgefangenenlager war, schliefen die Yankees in Baracken, deren Lage hier und dort noch an Resten von Grundmauern zwischen wucherndem Unkraut zu erkennen ist. Als die Anstalt in die Hände des Bundesstaats Mississippi und des Reverends Esterman überging, wurde ein neuer Zellenkomplex errichtet, ein riesiger rechtwinkeliger Betonbau hinter dem Kolonialhaus; links der Mädchen-, rechts der Jungentrakt.
Peter stößt Howard an. »Die Mädchen sind doch direkt gegenüber, oder?«
»Ja, Mann. Natürlich hat uns der Reverend strengstens verboten, Hand an uns zu legen, aber gleichzeitig stellt er uns einen ausgezeichneten Anlass dafür direkt vor die Augen. Das macht ihn bestimmt an, das alte Schwein.«
Sie verteilen sich auf die Quartiere. Jede Zelle, sieht Peter, besteht aus einem Kubus mit vier Metern Seitenlänge – drei gemauerte Wände und zum Flur hin ein Gitter –, dessen einzige Einrichtung drei Stockbetten, ein Waschbecken und ein immerhin tadellos sauberer Abort bilden. An der Wand jeder Zelle hängt ein Kruzifix neben einem riesigen vergitterten Monitor, auf dem in Endlosschleife die Reden diverser Fernsehprediger laufen. Die Betten sind mit Nieten am Boden fixiert, deren Köpfe zwischen den Fliesen versenkt sind. Alles ist sauber und kalt. Tot und kalt. Weiß und kalt.
Der dicke Buster verteilt die Neuankömmlinge auf die Zellen. Bei jedem Namen, den er ausruft, schlägt er mit seinem Schlagstock gegen das Gitter. Offenbar ist die Anstalt nicht überbelegt, denn es kommen nur vier bis fünf Häftlinge auf eine Zelle.
»Keine Sorge, Pete«, murmelt Howard in Peters Ohr. »Marcellus hat Buster bestochen. Es kostet uns eine Woche Kartoffeldienst, aber die linke Bazille hat versprochen, dich zu uns zu tun.«
Peter entspannt sich. Er sucht die lange Reihe der Mädchen am gegenüberliegenden Ende des Rechtecks nach Wendy ab und meint ihr blondes Haar in der Menge verschwinden zu sehen.
Er betritt die Zelle
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