Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
Vom Netzwerk:
Am anderen Ende, wo sich der Flur zu einem Wartezimmer weitet, erkennt er eine mächtige Gestalt, die am Kindertisch sitzt und Bauklötze stapelt. Eine leise Stimme flüstert. Eine lautere Stimme antwortet. Die erste faucht wütend. Die zweite ist ein von kurzem Schniefen unterbrochenes Jammern und Klagen. Je näher Chandler kommt, desto stärker dringt ihm ein stark menschelnder Geruch in die Nase.
    »Ezechiel?«
    Das Klagen verstummt. Auch die leise Stimme schweigt. Wenige Schritte vor der Gestalt, die ihm den Rücken zukehrt, bleibt Dr. Chandler stehen. Etwas hindert ihn daran, weiterzugehen.
    »Ezechiel, sind Sie’s?«
    Dr. Chandlers Finger tasten nach dem Lichtschalter. Ezzie krümmt sich und wirft mit einer fahrigen Geste seinen Turm aus Bauklötzen um. Er fährt sich mit seiner riesigen Pranke übers Gesicht.
    »Machen Sie bitte dieses scheußliche Licht wieder aus, Doc? Das sticht in den Augen.«
    Dr. Chandler folgt der Bitte. Ezzie klaubt seine Bauklötze wieder auf und beginnt abermals mit dem Turmbau. Er schlottert.
    »Wir sind doch erst morgen um halb elf verabredet«, sagt Dr. Chandler. »Wissen Sie nicht mehr?«
    »Der kleine Zeiger auf der Zehn und der große auf der Sechs. Ich hab den ganzen Tag gewartet, dass sie endlich dort ankommen, die zwei faulen Säcke. Und bitte sehr, der kleine Zeiger ist schon da, und der große ist auf der Drei. Wenn er auf sechs steht, haben wir einen Termin.«
    »Ja. Nur muss der große Zeiger morgen früh auf der Sechs stehen, nicht heute Abend.«
    »Zehn und sechs morgens?«
    »Ja. Wenn die beiden Zeiger sich auf der Zwölf treffen, dann ist entweder, wenn es Tag ist, Zeit fürs Mittagessen, oder es ist Nacht und Zeit zum Schlafen.«
    Ezzie türmt ungestüm Bauklötze übereinander. Die kleinen unten und die großen oben. Natürlich fängt der Turm zu schlingern an, wankt und stürzt in sich zusammen. Wieder fährt sich der Riese mit seiner Pranke übers Gesicht. Die Geste erfolgt so langsam und mit derart viel Kraft, dass es aussieht, als risse er sich die Haut ab.
    »Siehst du, was du schon wieder angerichtet hast, du trauriger Idiot«, tönt eine alte Stimme durchs Zwielicht. »Jetzt muss ich dir wieder die Nägel schneiden. Du willst es ja nicht anders, du widerliches kleines Schwein.«
    Ezzie schüttelt den Kopf. Chandler läuft es kalt den Rücken hinunter. Seit Jahren hat sein Patient nicht mehr mit der Stimme seiner Großmutter gesprochen.
    »Ich schlag Ihnen Folgendes vor, Ezzie. Nachdem unser Termin erst morgen Vormittag ist, gebe ich Ihnen jetzt ein paar Tabletten, damit Sie gut schlafen, und Sie gehen noch mal nach Hause und kommen morgen wieder, ist das okay?«
    »Wissen Sie noch, was Sie mir letztes Mal gesagt haben, Doc?«
    Chandler versucht nicht einmal, sich zu erinnern: Für Ezzie kann »das letzte Mal« irgendwann gewesen sein.
    »Das letzte Mal haben Sie gesagt, ich kann jederzeit zu Ihnen kommen, wenn irgendwas ist, auch wenn es nur ein kleines Problem ist.«
    »Jederzeit während unserer Öffnungszeiten , Ezzie. Das hab ich gesagt.«
    »Ja, aber die Tür war ja offen. Also war’s genau so, wie Sie’s gesagt haben.«
    »Wie denn?«
    »Ja, dass offen ist, wenn’s mir nicht gut geht, und dass ich kommen kann. Deswegen bin ich hier.«
    Mit Ezzie logisch argumentieren zu wollen ist sinnlos, und Chandler verzichtet darauf. Er sieht zu, wie der Riese Bauklötze aufeinanderstapelt. Der Turm schwankt. Irgendetwas in ihm schreit laut, dass das Bauwerk auf keinen Fall noch einmal einstürzen darf. Er zieht seinen Mantel aus und setzt sich auf einen Stuhl. Nur einen Moment lang denkt er an den Empfang, den ihm Cherie bereiten wird, wenn er nach Hause kommt.
    »Okay«, sagt er. »Sie haben gewonnen. Was ist passiert?«
    Ezzies Finger halten inne. Er fährt sich über die Wangen, dann legt er die Hände flach auf den Tisch.
    »Ich glaube, ich habe großen Mist gebaut, Doc.«
    »Wie groß?«
    Der Riese breitet weit die Hände aus und betrachtet den Raum zwischen ihnen.
    »Ungefähr so.«
    »Erzählen Sie. Ich hör Ihnen zu.«
    »Nein, Doc, Sie erzählen.«
    Ezzies Augen funkeln eigenartig.
    »Was haben Sie das letzte Mal mit mir gemacht?«
    »Ich weiß nicht – was meinen Sie?«
    »Seit dem letzten Mal hab ich wahnsinnig Kopfweh. Das ist wie ein Feuer. Und gleichzeitig wie Stein. Feuer und Stein, Doc. Wissen Sie, wie das ist? Also ich stell die Frage noch mal, damit Sie mich auch verstehen, trotz Feuer und Stein. Was haben Sie das letzte Mal, als ich hier

Weitere Kostenlose Bücher