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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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verdreht die Augen zur Decke. »Außer wenn sie …?«
    »Außer wenn sie ihnen einen bläst, dann macht sie es ohne, sie findet nämlich den Latexgeschmack widerlich. Ist dir das klar? Unsere sechzehnjährige Tochter zieht den Geschmack der Schwänze ihrer Freunde – bemerke bitte den Gebrauch der Mehrzahl! – dem Geschmack von Latex vor!«
    »Cherie, ich hab’s ein bisschen eilig …«
    »Herrgott, Henry! Ich teile dir mit, dass deine Tochter ein Flittchen ist, und du sagst, du hast es eilig?!«
    »Sheryl ist kein Flittchen. Sie ist ein Teenager, und ja, ich hab’s eilig, ich möchte die Praxis zusperren, um nach Hause zu kommen und in Ruhe alles mit dir zu besprechen.«
    »Deine Praxis? Du meinst dieses erbärmliche Sozialquatschzentrum, dessen Leiter du ehrenvollerweise in diesem erbärmlichen Kaff in Idaho bist? Kein Wunder, dass deine Tochter auf die schiefe Bahn gerät und dein Sohn ein Rotzlöffel ist, der zu seiner Mutter ›fick dich‹ sagt.«
    »Das hat er gesagt?«
    »Ja. Wundert es dich?«
    »Cherie, bitte beruhige dich. Ich möchte, dass du ruhig durch die Nase atmest und versuchst …«
    Ein Krachen kommt aus der Leitung. Cherie hat das Telefon auf die Arbeitsplatte in der Küche geschmissen und, wie so oft, wenn sie wütend ist, die Verbindung nicht vorher beendet. Dr. Chandler seufzt. Wieder wird im Hintergrund gebrüllt, Türen knallen. Er hört es an der Tür läuten.
    »Brett, machst du bitte auf?«, ruft Cherie.
    »Fick dich ins Knie!«
    Cherie beginnt zu kreischen. Sheryl antwortet aus weiter Ferne mit etwas, das unverständlich bleibt, aber unflätig klingt. Die Haustür wird geöffnet, wie er am vertrauten Geräusch der quietschenden Türangel erkennt. Es folgt ein Gepolter wie von umgestürzten Möbeln. Neuerliches Geschrei. Dr. Chandler beobachtet die tanzenden Schneeflocken im gelben Licht der Straßenlaterne. Draußen ist nicht mal eine Katze unterwegs. Kein einziges Auto fährt durch die Hauptstraße von Clint, nur sein Wagen steht schräg auf dem Parkplatz des Sozialberatungszentrums. Ein Volvo Kombi unter einer zwölf Zentimeter dicken Decke aus Pulverschnee. Er denkt daran, wie viel Energie es wieder kosten wird, die Schrottkiste freizuschaufeln, um in das Narrenhaus zurückzukehren, das sein Zuhause ist. Dreihundert Meter trennen ihn von dem Gebäude am Ortsende von Clint, dessen Lichter in die Dunkelheit leuchten. Chandler horcht ins Telefon. Schritte, Geschrei, Schläge, weiteres Türenknallen. Sheryl brüllt, offenbar hysterisch vor Wut. Brett schreit dazwischen. Chandler versteht nicht, was er sagt. Von Cherie nichts mehr. Dann ist es auf einmal still. Schritte nähern sich über den Linoleumboden der Küche. Das Telefon wird aufgehoben. Es atmet.
    »Cherie?«, fragt Chandler.
    Niemand antwortet, es wird nur geatmet.
    Dann bricht die Verbindung ab. Der Psychologe verzieht das Gesicht: Wenn Cherie einmal still ist, dann heißt das, sie ist wirklich außer sich. Er legt auf, schnappt sich den Mantel und den Eiskratzer. Er will schon das Büro verlassen, besinnt sich aber, denn aus dem Gestöber draußen ist unterdessen ein Schneesturm geworden. Er öffnet eine Schublade und nimmt ein gebrauchtes Glas und eine Flasche billigen Bourbon heraus. Er schenkt das Glas randvoll und beginnt zu trinken. Erst nippt er nur, dann schüttet er immer größere, immer gierigere Schlucke in sich hinein. Der Alkohol brennt in seiner Speiseröhre. Mit dem nächsten vollen Glas wirft er zusätzlich eine Tablette gegen Sodbrennen ein. Er grinst in die Dunkelheit. Ein Glas, um das Geschrei zu verdrängen. Ein weiteres, um die verächtlichen Blicke der Kinder auszublenden. Noch eins, um schlafen zu können, und ein viertes, um das Zittern beim Erwachen zu unterdrücken. Und so weiter, bis zum Abstecher zur Tankstelle, wo der Kauf von Bourbon in Anderthalbliterflaschen zur Gewohnheit, dann zur Selbstverständlichkeit wird.
    Er will aufstehen, als er hört, wie draußen die Eingangstür geht. Er blickt auf die Uhr: 22 Uhr 15. Er seufzt. Es ist immer dasselbe mit den armen Irren: Schlecht geht es ihnen abends, tagsüber kaum und ganz bestimmt nie dann, wenn sie einen Termin haben.
45
    Schon im Mantel, tritt Dr. Chandler in den schlecht beleuchteten Flur hinaus und geht zur Eingangstür, die sperrangelweit offen steht. Schnee liegt auf dem Fußboden, der zu kleinen Pfützen Schmutzwasser schmilzt. Hinter ihm ein Geräusch. Chandler fährt herum und späht mit zusammengekniffenen Augen ins Halbdunkel.

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