Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
und er fühlt danach. Der Hauch ist so kalt, dass er sich wie ein Gebirgsbach anfühlt. Er folgt ihm bis zur Quelle und stößt auf ein in die Wand eingelassenes Gitter.
»Und wo sind die anderen?«
»Auch da. He, Leute, Peter der Schreckliche ist von den Toten auferstanden!«
»Schön, dich zu hören, Pete!«
»Ist Wendy auch da?«
»Ja, drei oder vier Verliese weiter. Nachdem sie auf der Krankenstation wieder zusammengeflickt wurde.«
»Wendy?«
»Halt die Klappe, Pete. Sie pennt.«
»Wendy, hörst du mich?«
»Mann, ist der Kerl nervig! Ich sag dir doch, sie pennt!«
Etwas weiter entfernt meldet sich Ezzie. »Sie ist im Verlies neben mir, Peter. Ich hab vorhin mit ihr gesprochen. Da ging’s ihr gut.«
Peter verscheucht das Ungeziefer, das abermals seine Knöchel attackiert.
»Wie lang war ich außer Gefecht?«
»Zwei Tage.«
Peter bewegt wieder die Finger vor den Augen.
»Howard?«
»Ja?«
»Das hättest du mir lieber nicht sagen sollen. Jetzt krepier ich vor Hunger und Durst.«
»Etwa vier Schritte links von dir hast du einen Krug Wasser. Einen Laib Brot auf einer Ablage über dir, und das Scheißhaus ist sechs Schritte vor dir an der Wand.«
»Und das Bad mit Whirlpool drei Tage Fußmarsch Richtung Nordpol.«
»Hey, bist du auch wach, Collie?«
»Yeah!«
Peter tastet nach dem Brotlaib und schlägt gierig die Zähne hinein – und beißt sich dabei fast einen aus. Anscheinend haben sie Kies unter das Mehl gemischt.
»Fuck! Howie, was ist das für ein Zeug?«
»Brot halt.«
47
Peter steht auf und muss sich sofort an der Wand festhalten, weil sich ihm der Kopf dreht. Der Lehm unter seinen Füßen ist kalt und hart wie Ziegelstein. Er verzieht das Gesicht. Das Kreuz tut ihm scheußlich weh. Er geht vier Schritte nach links und findet den Wasserkrug. Er taucht die Finger hinein und ertastet ein Tier auf der Wasseroberfläche, einen Käfer oder eine fette Küchenschabe. Er fischt das Tier heraus und beißt hinein. Ein bisschen Flüssigkeit spritzt heraus und rinnt ihm über die Lippen. Eine Schabe. Er verschluckt das noch lebende Insekt und trinkt einen Schluck modriges Wasser nach, um den Geschmack zu vertreiben. Dann beißt er in das Brot und nimmt noch einen Schluck. Als er Brot und Wasser zu einem Brei zerkaut hat, schluckt er und beginnt von vorn. Der Krampf im Magen lässt allmählich nach. Er setzt sich wieder.
»Ist Wendy jetzt wach?«
»Ja, Süßer, ich bin wach.«
»He, Leute, Wendy nennt ihn ›Süßer‹!«
»Halt’s Maul, Howard. Wie geht’s dir, Baby?«
»Mir tut alles weh. Außerdem gibt es hier lauter Viehzeug. Und ich hab Hunger . Aber abgesehen davon geht’s.«
Eine Zeit lang sind alle still. Dann sagt Peter: »Ich hab übrigens von dir geträumt.«
»Echt? Ich auch!«
»Wir waren am Ufer des Mississippi, hatten grad miteinander geschlafen, schauten uns in die Augen, und es war schön.«
»Ich auch, aber in meinem Traum haben wir uns nur in die Augen geschaut, das war schön.«
»Sag mal, geht’s noch, ihr beiden? Stören wir womöglich?«
»Stimmt, es sind ja etliche Singles unter uns!«
»Also ich stopf mir einfach die Ohren zu, wenn sie reden.«
»Das ist nett von dir, Ezzie.«
»Keine Ursache, Wendy.«
Peter bewegt wieder die Finger vor den Augen. Er meint, seine Fingernägel zu erkennen.
»Wie geht’s deinem Gesicht?«, fragt er. »Wird es eine große Narbe oder nicht?«
»Wieso? Hast du Angst, dass ich zu hässlich geworden bin, und willst nicht mehr am Mississippiufer mit mir schlafen?«
»Nein. Ich möchte die Narbe im nächsten Traum unterbringen.«
»Sechs Stiche, aber es geht schon.«
»Ich bring den Kerl um, Baby.«
»Du hast ihm den Kiefer zerschmettert. Ich schätze, er wird eine Weile im Krankenhaus sein, und wenn er wieder rauskommt, wird er für den Rest seines Lebens aus einem Strohhalm trinken.«
»Trotzdem. Wenn er wieder rauskommt, bring ich ihn um.«
Peter beißt in seinen Brotlaib.
»Weiß jemand vielleicht eine lustige Geschichte?«, fragt Howard.
»Au ja, wer die lustigste Geschichte hat, gewinnt! Marcellus, fängst du an?«
Keine Antwort.
»He, Marcellus!«
»Lasst mich in Ruhe«, ertönt eine tränenerstickte Stimme.
»Hallo, Marcellus, flennst du oder pinkelst du?«
»Sei doch still, Collie! Marcellus, ich bin’s, Peter, was ist los?«
»Nix. Lasst mich einfach in Ruhe.«
»Mann, du musst reden. Das ist die Regel im Karzer: Der Erste, der nichts mehr sagt, ist ein toter Mann.«
Ein unterdrücktes Schluchzen
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