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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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tönt durch die Dunkelheit, gefolgt von einem Schniefen. »Ich muss hier raus«, sagt Marcellus.
    »Yeah, ich auch! Hol die Pizza, ich deck schon mal den Tisch.«
    »Jetzt halt die Klappe, Collie! Ich hab keine Lust, mich zu wiederholen, okay? Zwing mich nicht dazu, sonst wirst auch du demnächst deine Cola mit dem Strohhalm trinken. Marcellus?«
    »Ja.«
    »Sag schon.«
    »Ich kann nicht mehr schlafen. Seit zwei Tagen erzähl ich mir lauter Scheiß, um nicht denken zu müssen, aber es hilft nicht, ich kann einfach nicht schlafen. Und wenn ich nicht sehr bald hier rauskomme, werd ich verrückt.«
    »Du musst deine Angst loswerden, Mann. Du musst sie aus dir rauslassen, und dann siehst du schon, dass das alles hier nur Mauern sind und Finsternis. Nur Mauern und Finsternis, klar?«
    »Pete?«
    »Ja?«
    »Ich muss hier raus.«
    »Nur die Ruhe, Marcellus. Howard?«
    »Ja?«
    »Marcellus geht es schlecht.«
    »Ja, hab ich gehört. Marcellus?«
    »Ja?«
    »Geht’s dir schlecht, oder geht’s dir sehr schlecht?«
    »Ich bin am Ertrinken. Ich hab das Gefühl, dass meine Lunge voller Wasser ist, und ich saufe gleich ab.« Seine letzten Worte gehen in einem neuerlichen Schluchzen unter.
    »Marcellus? Du musst reden, und wir müssen dir antworten«, sagt Peter. »Okay? Daran musst du dich festhalten. Ist das klar?«
    Marcellus atmet durch den Mund. Er kämpft gegen die Panik an. Langsam drängt er sie zurück.
    »Okay«, sagt er. »Als ich klein war, in Kensington, Alabama, wohnten wir in einem kleinen Haus zwischen lauter anderen kleinen Häusern, die alle identisch waren. Meine Mutter …«
    »Langsam, Marcellus, atmen nicht vergessen.«
    »Meine Mutter hieß Amanda. Ich fand diesen Vornamen immer superschön, hat mich an Dörrobst erinnert. So war sie nämlich, meine Mutter, wie Dörrobst. Ihr wisst schon – diese Früchte, die in der Sonne getrocknet werden, und dann sind sie ganz eingeschrumpelt und runzlig und zerschmelzen einem im Mund vor lauter Süße und Weichheit. Bei Kids wie uns sind die Eltern meistens total Scheiße, aber in meinem Fall stimmt das nicht, Amanda war die beste Mutter der Welt. Verstehst du das, Pete?«
    »Hat sie nach Seife gerochen?«
    »Nach Seife und frischer Wäsche. Und nach Talkumpuder. Sie hatte ganz flache Backen und eine lädierte Haut, aber das Schönste war für mich, wenn ich meine runden Backen an ihre flachen drücken und ihren Talkumduft riechen durfte und sie mich in den Armen gehalten hat. Das passierte vor allem nachts, wenn ich schlecht geträumt hatte. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hat, aber immer wenn ich voller Angst aus dem Schlaf fuhr, war sie da, als hätte sie’s gespürt, dass es mir nicht gut geht. Genauso am Abend, wenn ich traurig war. Meistens war es so, dass ich im Wohnzimmer irgendwas spielte, dann schaute ich zum Fenster hinaus, sah den Abend kommen, und das tat irgendwie weh.«
    »Das nennt man die blaue Stunde.«
    »Was?«
    »Diese Traurigkeit, die einen überkommt, wenn es Abend wird. Blau deshalb, weil das Licht weniger wird und das Blau des Himmels immer dunkler.«
    Marcellus atmet mit Mühe. Er spricht weiter: »Amanda ist im Juni gestorben. Mitten im Winter fing sie zu husten an, und kurz vor Sommeranfang starb sie. Ich hab ihr bis zuletzt die Hand gehalten. Sie kam nach Hause zurück, weil man sie im Krankenhaus nicht mehr haben wollte. In der Nacht, in der sie starb, lag ich neben ihr und hielt ihre Hand, und sie hatte die Arme um mich. Ich weiß noch, wie ihr Atem gepfiffen und gegurgelt hat, denn ihre Lunge war voller Wasser. Sie strich mir über die Haare, und ich schlief ein. Als ich wieder aufwachte, war draußen ein trauriger, regnerischer Tag. Der Sozialdienst kam zwei Tage später, weil ich nicht ans Telefon ging. Ich lag immer noch in Amandas Armen, die erstarrt waren, und ihr Atem in meinem Ohr hatte aufgehört. Daran erinnere ich mich.«
    Marcellus schnieft in die Dunkelheit.
    »Danach kam ich zu Onkel Mitch. Der arbeitete tagsüber in einer Gießerei, und nachts soff er und schlug mich. Wenn er morgens aus dem Haus ging, sperrte er mich in einen Verschlag ohne Wasser und Licht. So war das. Ich meine, es gibt überhaupt nichts Heldenhaftes in meinem Leben. Immer nur Schläge, Demütigungen und Geschrei. Und dann …«
    »Was, Marcellus?«
    »Scheiße, ich kann es nicht sagen. Ich konnte es noch nie sagen. Ich dachte, euch könnte ich es vielleicht sagen, aber ich kann’s nicht.«
    Wendys Stimme dringt durch die

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